Naher Osten

Gaza-Konflikt schürt türkischen Nationalismus

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Boris Kalnoky

Foto: picture alliance / dpa / dpa

Die Aktion der Gaza-Flotte und Israels Antwort darauf wecken in der Türkei lange verdrängte nationalistische Reflexe.

„Klar, ihr mögt lieber die netten, sauberen, glatt rasierten, westlichen Typen. Die Faschisten." Der Mann, der mich so anfährt, ist ein guter Bekannter, Übersetzer von Büchern, jemand, der aufklärerisch denkt und bei innenpolitischen Diskussionen immer die gemäßigte Mitte sucht. Die Gaza-Krise hat ihn verwandelt. Er betrachtet mich plötzlich als Gegner und wähnt die Türkei in notwendiger Kampfbereitschaft gegen eine böse Außenwelt.

Israel sieht das so: Seine Soldaten handelten in Notwehr, als sie bei der Erstürmung des Schiffskonvois Ende Mai mit Messern und Knüppeln angegriffen worden seien. Die Schiffe wollten mit Hilfsgütern an Bord die von Israel errichtete Blockade für den Gazastreifen durchbrechen. Bei dem Versuch starben neun türkische Aktivisten. Den Konvoi, organisiert von der islamischen Fundamentalisten-Bewegung Milli Görüs, hatte ich mir erlaubt eine „Provokation" zu nennen.

Da explodierte mein sonst so gemäßigter Freund: „Wenn ihr uns provoziert, provozieren wir zurück. Ihr solltet mal darüber nachdenken!" Er war nicht mehr er, sondern „wir", und ich, der ich als Osteuropäer nicht einmal ohne Weiteres als „Westler" gelten sollte, war plötzlich „ihr". Wer westlich ist und weiß, der ist nun im Grunde Jude.

Seit dem Tod der Aktivisten auf der „Mavi Marmara" ist in der Türkei selbst bei liberalen Leuten eine mentale Trennwand niedergegangen zwischen „uns" und „ihnen". Beim Gang zur Bank und dem alltäglichen Plausch mit dem freundlichen Mann am Schalter ist sie auch da, die neue Mauer. Was hält er von dem Drama? Schweigen. Dann: „Das Wetter ist wieder gut geworden." Er will nicht darüber reden, um nichts Verletzendes sagen zu müssen.

Es gilt nur noch die nationale Linie

Es ist nicht nur eine neue Distanz zwischen „westlich" und „türkisch". In der Türkei selbst hat die innenpolitische Diskussion mehr oder weniger aufgehört. Bis zur Gaza-Flottille lagen sich Säkulare und Religiöse in den Haaren, die Armee und die Vertreter einer neuen muslimischen Ordnung für das Land.

All das hat aufgehört. Es gibt nur noch eine Linie: Die nationale. Im vornehmen Stadtteil Caddebostan, wo man traditionell prowestlich und säkular denkt, hat die islamisch geprägte Regierungspartei AKP bei Wahlen noch nie viel erreichen können. Hier wohnen die „netten, sauberen, glatt rasierten, westlichen Typen", über die sich mein eingangs erwähnter Bekannter so in Rage redete. Was denken sie über den Zwischenfall, frage ich eine Gruppe von Geschäftsleuten.

„Wild", sagt Importeur Volkan Özdemir, 24. „Das hätte nicht passieren dürfen. Unser Regierungschef Recep Tayyip Erdogan hat einfach zu ängstlich reagiert. Wir hätten ein Kriegsschiff schicken sollen." Dass die türkischen Fundamentalisten und Organisatoren der Aktion Gewalt womöglich provozieren wollten, ist hier nicht mehr denkbar, selbst bei den härtesten Gegnern einer islamisch orientierten Politik.

Die Frage muss anders gestellt werden: Ob es denn gute Politik sei, dass die Türkei sich jetzt im Verbund mit dem Iran und der radikalislamischen Hamas zeige, aus der von links und rechts Rufe nach dem Ende Israels kommen? Nein, das sei falsche Politik, sagt Levent Günay, 36. „Hamas sind Terroristen, Terrorgruppen sollte man nie als Staatsmacht anerkennen."

Der Taxifahrer und der Landesverräter

Dass die mit Hamas gut vernetzte türkische „Insani Yardim Vakfi", die sich IHH abkürzt und etwa mit „Stiftung für humanitäre Hilfe" übersetzen lässt, mit ihrer Gaza-Aktion habe provozieren wollen, können die die Geschäftsleute nicht glauben. Fotografiert werden wollen sie nicht.

„Von den glatten Typen in Caddebostan könnt ihr nichts Gutes erwarten", belehrt mich Taxifahrer Ahmet Söyit. Er bringt mich in den ausgeprägt muslimischen Stadtteil Ümraniye und gibt derweil seine Meinungen kund: Wer etwas Negatives über die IHH sage, „ist ein Verräter des Landes". Er lobt den iranischen Präsidenten Mahmud Ahmadinedschad, weil der das Ende Israels herbeiwünscht. Das wünscht auch Ahmet Söyit, aber „es sind noch nicht genug Länder dieser Meinung. Wenn es genug sind, wird es passieren."

In Ümraniye begebe ich mich ins Epizentrum des Bebens, das die Türkei erschüttert. Die IHH, die die Gaza-Flotte organisierte, ging aus einer anderen Organisation hervor, ?die sich „Anatolische Jugend" (Anadolu Genclik) nennt. Beide gehören zur fundamentalistischen Milli-Görüs-Bewegung. In einem Zelt findet ein Wohltätigkeitsbasar statt. Vor allem Frauen sind da, teils bunt gekleidet, teils schwarz verhüllt. Es gibt Kebab und Tee.

"Es vereint alle Menschen in der Türkei"

„Die Israelis haben die Türken erschossen, um Rache zu nehmen an Erdogan", meint Hatice Arslan, 22, mit glänzendem Blick aus dem schwarzem Tuch heraus. „Wir hätten genauso wie die Israelis Kommandos und Hubschrauber schicken sollen, um das Schiff zurückzuerobern." Auch ihre Freundin, Hatice Kubra Karakaya, 22, spricht davon, dass die Türkei die Luftwaffe gegen Israel hätte einsetzen müssen. Ankara, so meint sie, solle alle Abkommen mit Israel sofort kündigen. Aber sie freut sich, dass der Zwischenfall das Land politisch verändert: „Es vereint alle Menschen in der Türkei."

Dass die beiden verhüllten jungen Frauen überhaupt mit mir sprechen, verdanke ich dem lokalen Chef der Organisation, Mehmet Sahin, der uns auch gleich verköstigt. Er erklärt mir zunächst – damit ja kein Missverständnis aufkomme –, dass die Gaza-Flotte eine Aktion der Milli Görüs war und dass die IHH aus seiner Organisation hervorging. „Wir wollen eine neue, größere Türkei als Führer der islamischen Welt", umreißt er die Grundzüge „unserer politischen Ideologie".

Seine Organisation will Jugendliche „politisch sensibilisieren". Stolz zeigt er ein Video, auf dem IHH-Chef Bülent Yildirim vom Flaggschiff der Gaza-Flottille den Führer der „Milli Görüs" grüßt, den einstigen Ministerpräsidenten und Urvater des türkischen Islamismus Necmettin Erbakan. Das Video ist online auf Facebook und Dailymotion zu sehen, Yildirim nennt die Aktivisten darin Erbakans „Schüler", die sich darauf vorbereiten, „Israels Kampftruppen" zu begegnen, und so den Kampf mit dem „Zionismus" aufzunehmen.

"Ein großer Sieg für uns"

Israel, so erklärt mir Mehmet Sahin, verstehe nur die Sprache der Gewalt, und Milli Görüs und Erbakan seien die Einzigen in der Türkei, die das wirklich verstanden hätten. Ich sehe mich um im Basarzelt – da ist eine Mutter mit zwei kleinen Jungen, beide in Kampfuniform. Radikalisiert sich die Türkei?

Diese Schicht der türkischen Gesellschaft ist normalerweise eine kleine Minderheit, bei den letzten Wahlen scheiterte Erbakans Saadet-Partei an der Zehn-Prozent-Hürde. Aber die Gaza-Affäre hat sie plötzlich zu der Kraft gemacht, die in der Türkei den Ton angibt und das ganze Land hinter sich vereint. „Es ist ein großer Sieg für uns, ein großer Durchbruch", sagt Sahin. „Durch die Gaza-Aktion ist jetzt das ganze Land und viele andere Länder auf unserer Seite. Gaza ist zum Problem aller Menschen geworden."


Nun wolle man abwarten, ob die Regierung, ob Ministerpräsident Erdogan und Staatspräsident Abdullah Gül sich anpassen werden. Beide entstammen der Milli Görüs, wählten aber später gemäßigtere Positionen. „Ihre Handlungen werden zeigen, ob sie im Herzen doch noch zu uns gehören", sagt Sahin. Wie zum Beweis zitierte die französische Tageszeitung „Le Monde" Präsident Gül, Israel müsse sich für die Erstürmung des Schiffskonvois entschuldigen und eine Entschädigung für den Tod der neun türkischen Staatsbürger zahlen.

Sollte sich Israel nicht bewegen, könne die Türkei die diplomatischen Beziehungen abbrechen. Gül sprach von einem Verbrechen, das eher der Extremistenorganisation al-Qaida als einem Staat ähnlich sehe.

Sahin wird das gern hören. In den Herzen und Köpfen haben er und seine muslimischen Mitstreiter jedenfalls einen enormen Konformitätsdruck ausgelöst, der Patriotismus liegt allen sowieso im Blut. „Israel ist nun entlarvt", meint Kebab-Händler Cetin Düzeltiren. „Wenn es nicht Israel gewesen wäre, dann wäre vielleicht sogar Krieg entstanden. Wir hätten ein Kriegsschiff schicken können." Cafer Dede, ein Gebäck-Verkäufer, hält die Reaktionen seiner Regierung für „unwirksam", es sei alles nur Gerede, dem entsprechende Taten nicht folgen würden.

"Die EU wird zerfallen"

Im säkularen Stadtteil Kadiköy meint Ali Sekban, ein pensionierter Offizier, der eigentlich immer gegen die islamisch orientierte Regierung war: Der harte Kurs der Regierung gegen Israel sei „richtig", und im Übrigen sei man nun auch gegen die EU. Da ist sie wieder, die neue Trennwand gegenüber dem Westen. „Die EU wird zerfallen und wir erwarten es mit Neugier", sagt Sekban. Er mag auch Bundeskanzlerin Angela Merkel nicht und empfiehlt Deutschland, sich um die eigenen Angelegenheiten zu kümmern.

Es scheint, als ob die Gaza-Flotte eine neue Türkei zum Vorschein bringt, die in den acht Jahren der AKP-Herrschaft heranreifte, aber bislang nicht ins Rampenlicht trat. Es ist eine selbstbewusstere, islamischere, zornigere Türkei. Die EU hat, so empfinden es viele, das Werben um die Mitgliedschaft höhnisch abgewiesen. Israel bringt „friedliche Türken" um. Man ist allein, auf sich selbst gestellt. Der Instinkt sagt, das Heil liege in dem, was Erbakan will und die Regierung immer deutlicher anstrebt: eine neue Türkei als Zentrum der islamischen Welt, stark genug, um den Westen und Israel in die Schranken zu weisen.

Eben tat Ankara den nächsten Schritt: Man will im Nahen Osten eine Wirtschaftsgemeinschaft schaffen, eine Art EU der muslimischen Länder der Region. Es soll, so sagt Außenminister Ahmet Davutoglu, zugleich eine Sicherheitsgemeinschaft werden. Ein Militärbündnis also. Wer könnte wohl dessen Feind darstellen, gegen den man sich verbünden muss? Niemand sagt es, aber es ist offenkundig: Israel. Und jene, die Israel schützen. Der Westen und die USA. Sie sollen nie mehr in der Lage sein, im Nahen Osten ihre eigenen Gesetze zu machen, Kriege anzuzetteln, Konflikte zu schüren. Die neue Ordnungsmacht will die Türkei selbst sein.