An Istanbuls Taksim-Platz hängen Dutzende militanter Muslime an der aufrechten Statue Staatsgründer Mustafa Kemal Atatürk. „Allahu Akbar“, schreien sie, „Gott ist groß“. Sie tragen grüne Stirnbänder, ihre tief verhüllten Frauen schwarze Mäntel und ebenso schwarze Kopftücher.
Gott mag groß sein, aber so wie diese Leute es meinen, entspricht die Bedeutung der Worte eher dem einstigen „Gott mit uns“ deutscher Wehrmachtssoldaten. Es werden Fahnen geschwenkt; die gelbe Fahne der libanesischen Hisbollah mit hochgereckter Kalaschnikow; Fahnen mit Moscheen, vor denen Schwerter gekreuzt sind, oder aus deren Kuppeln Gewehrläufe aufragen statt Minarette.
Kein Zweifel, diese Menschen verstehen sich als Kämpfer in einem Gott wohlgefälligen Kampf, und der Gegner ist Israel. Sie sind Aktivisten fundamentalistischer islamischer Organisationen und Parteien in der Türkei, die maßgeblich dazu beitrugen, einen Blockadebrecher-Konvoi nach Gaza zu schicken – die „humanitäre“ Organisation IHH und die religiöse Saadet-Partei, die die Scharia einführen möchte.
Mehrere Schiffe mit 10.000 Tonnen Hilfsgütern und Hunderten von Aktivisten haben diese Gruppen nach Gaza geschickt, als Teil einer internationalen Protestaktion gegen Israels Blockade des Gaza-Streifens. Wieso so viele Aktivisten auf den Schiffen? Offenbar um Widerstand zu leisten, sollte Israel den Konvoi entern. So geschah es denn auch am frühen Montag morgen; die Israelis reagierten, indem sie feuerten. 16 Aktivisten starben, so berichten es türkische Medien.
Dieselben Gruppen, die mit sehr viel Geld und logistischem Aufwand den Konvoi organisierten, sind jetzt genauso effizient und schnell zur Stelle, um zu protestieren. In Windeseile müssen sie die Plakate und Transparente gedruckt haben, auf Türkisch, Arabisch, Englisch und Hebräisch: „Gefährliches Israel, Hände weg von unseren Schiff“.
Zuerst sammeln sie sich am frühen Morgen vor dem israelischen Konsulat, versuchen es zu stürmen, werden aber von der Polizei abgedrängt. Gegen Mittag ziehen sie zum Taksim-Platz im Stadtzentrum , wo sie nun von der Atatürk-Statue herab ihren Hass auf Israel und ihre Liebe zu Gott herausschreien. Insgesamt sind vielleicht 15.000 bis 25.000 Menschen da, die Polizei macht Platz; es ist ein Bild der neuen Türkei. Was würde wohl Atatürk denken, auf dem die eifernden Muslime herumklettern? Er, der das Kalifat abschaffte, Muslimen ihre traditionelle Kleidung verbot, und im Islam die größte Fortschrittsbremse für sein Land erkannte?
Seit die islamische geprägte AKP das Land regiert, haben islamische Gruppen wieder mehr Freiraum. Es ist ein Sinnbild der neuen Türkei, dass die Polizei betont zurückhaltend auftritt, sogar den Platz räumt, damit mehr Demonstrantren herein können. Aber es gibt eine radikalere, dunklere Strömung jenseits der AKP, und einen Augenblick lang scheint es fast, als wollten die beiden Facetten der neuen Türkei aneinander geraten. Die Demonstranten wollen vordringen in die große Einkaufsmeile Istiklel, doch die Polizei zieht da eine Grenze. Verstärkungen eilen heran, Helme werden aufgesetzt und die Tränengaskanister festgezurrt. Am Ende bleibt dann doch alles friedlich – noch profitiert man von einander, noch lohnt sich kein Konflikt.
Die Militanten brauchen den Freiraum, den die AKP ihnen gibt, und die AKP braucht die Popularität, die sie jedesmal erntet, wenn sie den Konflikt mit Israel sucht. Vor den letzten Lokalwahlen provozierte Ministerpräsident Erdogan bewußt einen Eklat, als er in Davos wutschnaubend das Weltwirtschaftsforum verließ, nachdem er die Israelis „Kindermörder“ genannt hatte. Jetzt steht ein Verfassungsreferendum an, mit dessen Hilfe die AKP endgültig die Macht des alten, säkularen Establishments zu brechen hofft. Dafür braucht sie den Rückhalt der Wähler, und dazu passt es gut, wenn man jetzt wieder gegen Israel zu Felde ziehen kann.
Wenn die Verfassungsreform gelingt, dann mag eines Tages der Machtkampf zwischen dem islamischen und dem säkularen, kemalistischen Lager ersetzt werden durch ein neues Ringen – das Ringen zwischen gemäßigtem und radikalem Islam in der Türkei.