Die Berichte zu den neuen Wikileaks-Geheimdokumenten sind veröffentlicht - offenbar früher als geplant. Denn im Netz konnte man schon am Nachmittag ein wenig daraus lesen. Weil es in Basel eine Panne am Bahnhof gab.

Am Nachmittag meldet der Schweizer Radiosender Radio Basel , man habe ein Magazin gekauft. Genau: die aktuelle Ausgabe des Nachrichtenmagazins „Spiegel“, am Badischen Bahnhof. An anderen Tagen wäre das so bedeutend wie der sprichwörtliche Sack Reis, der irgendwo in Asien umfällt. Aber nicht an diesem Sonntag: Erwartet wird, dass der „Spiegel“ wie schon im Oktober der in seiner aktuellen Ausgabe Dokumente veröffentlicht, die von der Enthüllungsplattform Wikileaks kommen. Es gibt Indizien dafür. Der Verkauf sollte darum erst am Abend beginnen. In Basel aber gibt es das Heft schon, wegen einer Logistik-Panne .

Die Ankündigung von Wikileaks, dass geheime diplomatische Depeschen der US-Vertretungen in aller Welt veröffentlicht werden sollen, hat bei der US-Regierung und ihren Partnern bereits für hektische Aktivität gesorgt. Die Depeschen enthalten angeblich despektierliche bis peinliche Einschätzungen von Regierungen und Bündnispartnern der Amerikaner. In den Berichten, so heißt es, schildern US-Diplomaten ohne Rücksicht auf die Befindlichkeiten der Beschriebenen – die Schriftstücke sollten schließlich nie veröffentlicht werden – ihre Einschätzung der internationalen Politik-Elite nieder.

Elektronische Attacke auf Wikileaks-Website

Normalerweise ist der „Spiegel“ vielenorts bereits am Sonntagmorgen zu kaufen – an diesem Wochenende aber erscheint die aktuelle Ausgabe erst am Sonntagabend. Auch die elektronische Spiegel-Ausgabe ist erst später zu haben als sonst. Bei Spiegel Online fand sich ein entsprechender Hinweis: „Aus redaktionellen Gründen ist die E-Paper-Ausgabe des neuen SPIEGEL 48/2010 erst ab Sonntag, 22.30 Uhr, verfügbar.“

Nun aber haben " Spiegel ", " New York Times ", " Le Monde ", " El Pais " und " Guardian " ihre Berichte auf Basis des Wikileaks-Materials veröffentlicht. Auf der Website des Spiegels ist der betreffende Artikel mit der Zeile "Geheimdepeschen enthüllen Weltsicht der USA" überschrieben. Bei der "New York Times" ist der Dreh ähnlich: "Lancierte Depeschen enthüllen die US-Diplomatie". Beim Guardian heißt es, die Veröffentlichung der geheimen Botschaftsberichte würden "eine globale diplomatische Krise" auslösen. Der "Spiegel" veröffentlichte auch seine elektronische Ausgabe und die für das iPad früher als geplant - durchaus denkbar, dass das eine Folge der Panne von Basel war.

Die Wikileaks-Website war unterdessen durch eine umfassende Daten-Attacke lahmgelegt worden. Die Adresse www.wikileaks.org war nach einem DDoS-Angriff (Distributed Denial of Service) vorübergehend nicht erreichbar. Bei einer DDoS-Attacke wird in einer abgestimmten Aktion von verschiedenen Stellen aus eine Vielzahl von Abrufen auf eine Website gerichtet, die den Server der Website überfordert und schließlich zusammenbrechen lässt.

Gaddafi mit „üppiger Blondine als Krankenschwester“

In Basel waren zuvor einzelne Ausgaben der „Spiegel“-Nummer 48 verkauft worden - unter anderem an Christian Heeb, den Chefredaktor von Radio Basel. "Das war nun keine journalistische Glanzleistung", sagte Heeb Morgenpost Online. Er habe sich zunächst einfach gewundert, dass er den "Spiegel" nicht als Download-Ausgabe hatte bekommen können. Und weil er wusste, dass der "Spiegel"-Vertrieb am Badischen Bahnhof die aktuellen Ausgaben umladen lässt, sei er da einfach mal hingegangen. "Ich bin da mal vorbei und habe gefragt. Und ich habe den aktuellen 'Spiegel' in die Hand gedrückt bekommen und bezahlt." Anschließend habe er versucht, das Heft auch anderswo zu bekommen, und die Auskunft erhalten, dass die neue Ausgabe erst am Montag da wäre. Dann setzte Heeb die Meldung ab.

Wenig später meldete sich die Chefredaktion des "Spiegel". Wann und unter welchen Umständen er den "Spiegel" habe kaufen können, wurde Heeb gefragt. Kurze Zeit später gab es keinen "Spiegel" mehr in Basel. Dann meldeten sich die Nachrichtenagenturen, Heeb gab dem israelischen Fernsehen ein Interview - und die Redaktion von "Anne Will" rief an. Dort wollte man Wikileaks zum Thema der Sendung am Abend machen, hatte aber offenbar den Spiegel nicht - und bat Heeb, der möge doch sein Exemplar zur Verfügung stellen, "sonst würde die Sendung flach fallen". Heeb weigerte sich. Das Thema der Sendung wurde trotzdem geändert.

Wikileaks-Bericht stückweise bei Twitter

Heeb war indes nicht der einzige, der in Basel einen "Spiegel" erstand, der gar nicht verkauft werden sollte. Der twitter-Nutzer sa7yr wies bei Twitter auf die Meldung von Radio Basel hin. Nutzer Freelancer_09 twitterte daraufhin: "bräuchte nur 20min bis dorthin, soll ich? :-)" Und wenig später: "hab ihn!!!!!" Anschließend sendete Freelancer_09 Tweets mit kürzen Auszügen aus dem ihm angeblich vorliegenden bericht ("Obama immun gegen Merkels Bezirzungsversuche"). Und verbreitet über den Kurznachrichtendienst drei Bilddateien, Seiten aus der besagten Ausgabe.

Die Bilder zeigen unter anderem die „Spiegel“-Titelseite. „Enthüllt – Wie Amerika die Welt sieht. Die Geheim-Berichte des US-Außenministeriums“ steht dort, dazu sind zwölf Politiker abgebildet, mit Attributen, die aus den geheimen Depeschen kommen. Guido Westerwelle (FDP) ist demnach „aggressiv“, Horst Seehofer „unberechenbar“, der russische Präsident Dimitri Medwedjew „blass, zögerlich“, Ministerpräsident Wladimir Putin dagegen ein „Alpha-Rüde“. Bei Silvio Berlusconi steht der Vermerk „wilde Party“, bei Nordkoreas Diktator Kim Jong-il „epileptische Anfälle“, bei Lybiens Staatschef Muammar Al-Gaddafi „Üppige Blondine als Krankenschwester“. Frankreichs Präsident Nicolas Sarkozy sei ein „Kaiser ohne Kleider“, der afghanische Präsident Hamid Karzai „von Paranoia getrieben“, der deutsche Entwicklungshilfeminister Dirk Niebel sei eine „schräge Wahl“. Über den iranischen Präsidenten Mahmud Ahmadinedschad heißt es: „Ist Hitler“.

Die beiden anderen Seiten ( Seite 21 und Seite 24 ), die aus dem aktuellen „Spiegel“ stammten, schildern zum einen, wie ein Informant aus den Reihen der FDP im Oktober 2009 die amerikanische Botschaft in Berlin informierte und mit Koalitions-Interna versorgte – US-Botschafter Philip Murphy berichtete demnach darüber in Depeschen an seine Chefin Hillary Clinton. Überschrieben ist der Artikel mit der Zeile "Angela 'Teflon' Merkel".

US-Botschafter erwartet Unangenehmes

In einem Text für die „Bild am Sonntag“ schreibt Murphy zu den möglichen Auswirkungen der Wikileaks-Veröffentlichung: „Es wird zumindest unangenehm sein – für meine Regierung, für diejenigen, die in unseren Berichten erwähnt werden, und für mich persönlich als amerikanischer Botschafter in Deutschland.“ Denn insbesondere Außenminister Guido Westerwelle (FPD), so scheint es, kommt schlecht weg. In dem via Twitter veröffentlichten, mutmaßlichen „Spiegel“-Bericht heißt es, außenpolitische Fragen würde die US-Regierung sehr viel lieber mit dem Kanzleramt als mit dem Außenministerium klären – Westerwelle wäre demnach in den Augen der US-Regierung nur eine Art Vize-Außenminister.

Wikileaks will rund 250.000 Dokumente des US-Außenministeriums veröffentlichen. „Diese 250.000 Dokumente stammen aus amerikanischen Botschaften weltweit“, sagte Wikileaks-Chef Julian Assange am Sonntag Journalisten im jordanischen Amman per Videokonferenz. „Ich habe in diesem Monat einen Großteil meiner Energie und meiner Zeit darauf verwendet, die Veröffentlichung der diplomatischen Geschichte der USA vorzubereiten.“

Das State Department schreibt an Wikileaks

Das US-Außenministerium hatte sich zuvor in einem Brief an Assange gewandt. Darin heißt es, mit der Veröffentlichung der Dokumente werde ein Rechtsbruch begangen. Zudem würde „das Leben ungezählter unschuldiger Menschen, von Journalisten und Menschenrechtsaktivisten, über Blogger und Soldaten bis hin zu Menschen gefährden, die Informationen weiterleiten, um Sicherheit und Frieden zu befördern“. Betroffen wären auch „laufende Militäreinsätze, etwa gegen Terroristen, Menschen- und Waffenschmuggler, gewalttätige kriminelle Vereinigungen und andere Akteure, die die weltweite Sicherheit bedrohen“. Zudem sieht das Ministerium Risiken für die „Zusammenarbeit zwischen Ländern, Partnern, Alliierten und allgemeinen Interessenvertretern“ und verweist dabei auf die Zusammenarbeit in den Bereichen Terrorismus, Bekämpfung von Pandemien oder die Kooperation gegen die Weiterverbreitung von Atommaterial.

Unterzeichnet ist das Schreiben von Harold Koh, dem Rechtsberater des Außenministeriums. Koh wirft Assange allgemein vor, das Leben unzähliger Menschen mit der Veröffentlichung der Dokumente zu gefährden und lehnt eine Zusammenarbeit ab: „Wir werden nicht über eine weitere Veröffentlichung oder Verbreitung illegal erhaltener Geheimdokumente der US-Regierung verhandeln.“ Das Ministerium fordert von Assange, die Veröffentlichung derartiger Dokumente zu unterlassen, alle US-Geheimakten zurückzugeben und Wikileaks-Datenbanken zu löschen.

Wikileaks hatte im Juli bereits 77.000 Dokumente zum Afghanistan-Krieg zugänglich gemacht. Im Oktober veröffentlichte die Plattform dann rund 400.000 geheime Unterlagen des Pentagons zum Irak-Krieg. Als mögliche Quelle gilt ein ehemaliger Agent des US-Militärgeheimdienstes, Bradley Mannings. Er wurde im Mai nach der Wikileaks-Veröffentlichung eines Videos aus dem Irak verhaftet. Das Video zeigt, wie eine US-Kampfhubschrauber-Besatzung Zivilisten in Bagdad tötet.