Ohne "Copy & Paste"

Wie ich meine Doktorarbeit (selbst) schrieb

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Von Biolek bis Sarrazin: Prominente Promovierte berichten von Qualen, Freuden und Skurrilitäten. Und ganz ohne "Kopieren" und "Einsetzen".

Alfred Biolek: Im Malzbier schwimmt eine verweste Schnecke

Man stelle sich vor, eine Frau trinkt in England ein Malzbier. Nachdem sie die Flasche leer getrunken hat, findet sie auf dem Flaschenboden eine verweste Schnecke. Wenn Sie glauben, mit so einer Geschichte könne man keinen akademischen Grad erlangen, dann haben Sie sich geirrt. Es handelt sich um einen wegweisenden Fall im international vergleichbaren Recht. Professor Dr. Ernst von Caemmerer war eine Koryphäe auf dem Gebiet und hat mir nach meinem bestandenen Juraexamen, Anfang der 60er-Jahre das drittbeste in Baden-Württemberg, vorgeschlagen, bei ihm als wissenschaftliche Hilfskraft zu arbeiten und zu promovieren.

Der Titel meiner Arbeit lautet: „Die Schadensersatzhaftung des Herstellers und Verkäufers mangelhafter Ware nach englischem Recht.“ Und in der Tat, es hatte sich so zugetragen: Die Dame mit dem Bier und der Schnecke bekam einen Schock, Magenkrämpfe und musste sich übergeben. Daraufhin verklagte sie anstelle des Verkäufers der Brause, den ja keine Schuld traf, den Hersteller.

Das House of Lords befasste sich schließlich mit dem Fall, und die Frau bekam recht. Obwohl sie keinen direkten Vertrag mit dem Hersteller geschlossen hatte. Das war bis zu dem Zeitpunkt eigentlich ausschlaggebend für eine erfolgreiche Klage. So entstand die heute allseits bekannte Sorgfaltspflicht von Fabrikanten für Nahrungsmittel und Medikamente. Im Rechtsspruch sagte der urteilende Lord Atkin, das Gebot, den Nächsten zu lieben, werde im Rechtsleben zur Pflicht, den Nächsten nicht zu verletzen. Damit setzte er einen Markstein in der Entwicklung des Common Law.

Als Referendar musste ich damals extra für mehrere Monate nach Hamburg ziehen, um dort im Max-Planck-Institut an die englischen Akten zu gelangen. Für die gesamte Arbeit habe ich höchstens ein halbes Jahr gebraucht. So war das damals. Und abgeschrieben wurde mühsam per Schreibmaschine. „Copy and paste“ gab es damals leider noch nicht. Aber ich kann nicht von der Hand weisen, dass sogar schon meine Doktorarbeit einen Drang zum Entertainment aufweist.

Katja Kessler: Die vier Wahrheiten des Dokterns

Ich glaube ja, dass derzeit ganz viele Akademiker ans Bücherregal treten und den Staub von ihrer Doktorarbeit pusten. Nach dem Motto: Hey, was habe ich da eigentlich damals so geschrieben?

DAS ist die eine große Wahrheit jeder Dissertation: Ständig verfluchst du sie. Sie kostet dich über Jahre deine Freizeit und den letzten Nerv. Und wenn du sie dann endlich fertig hast, guckst du sie nicht mehr an.

Mein Werk heißt: Eisenaufladung und Antioxidantienstatus bei Patienten mit homozygoter Beta-Thalassämie unter Gabe des Chelators Deferiprone, abgeschlossen 1997. Ein trocken zu lesendes, von elfenbeinfarbener Kartonage zusammengehaltenes Elaborat über eine Anämieform in Mittelmeerländern, bei der die Patienten neben ihrer todbringenden Grunderkrankung dann auch noch Zahnprobleme haben.

Das ist die zweite Wahrheit einer jeden Doktorarbeit: Du erforschst nicht, ob die Erde rund ist oder eine Scheibe, du untersuchst den Teilbereich vom Teilbereich des Teilbereichs. Das mag, man weiß es ja nicht, für irgendwen mal irgendwann sehr, sehr hilfreich sein. Aber in aller Regel findet deine Arbeit, an der du so unendliche tausend Stunden rumgeschnitzt hast, ihre Ruhe in irgendeinem Uni-Archiv.

Wie schade, und Zeit für die dritte Wahrheit. Irgendwie bist du ja auch stolz! Du liebst dein Werk und hängst an ihm wie die Mama an dem Kind mit den zu großen Füßen. Und jetzt interessiert sich gar kein Mensch dafür!

Nun ist es auch nicht so, dass du nach elf Semestern Zahnmedizin und mit Staatsexamen in der Tasche über den Campus lustwandelst und dir überlegst: Eene, meene, muh, wo will ich denn jetzt mal Doktorandin sein? Eher bist du froh, dass dich irgendein Professor nimmt. Und der noch größere Luxus ist, wenn er sich sogar um dich kümmert.

Mir war dieses Glück beschieden. Ich kam unter bei einem ganz tollen Doktorvater in der medizinischen Biochemie. Als Zahnmedizinerin darfst du ja in jedem medizinischen Fachbereich promovieren. So kam es, dass ich über Monate auf einem Stuhl in einem Labor mit weißen Mäusen saß und Licht durch Röhrchen mit Blut- und Urinproben schickte. Dass ich jetzt alles weiß über Eisenbindungskapazitäten und Transferrinsättigung. Und dass ich sogar für ein paar Monate meines Lebens – ich glaub’s mir ja selbst nicht! – Excel-Tabellen erstellen konnte.

DAS ALLES EMPFINDE ICH ALS RIESENGROSSES GESCHENK!

Deswegen hier die vierte Dissertationswahrheit: Mit Wollen allein ist nichts zu wollen im Promotionsmarathon. Du brauchst Personen, die mit dir kämpfen: deinen Doktorvater. Den lieben Gott, der die Hand über dich hält. Und eine Mama, die regelmäßig Kaffee rüberschiebt.

Prälat Georg Gänswein: Es war eine Zeit der Askese

Im Oktober 1986 wurde ich von Erzbischof Oskar Saier von Freiburg nach München an die Ludwig-Maximilians-Universität geschickt, um mich für einen künftigen Dienst im Erzbistum durch das Studium des Kirchenrechts weiterzuqualifizieren. Wie häufig bei Priestern steht am Anfang meines Doktorats also ein Auftrag und keine eigene Entscheidung einer Karriereplanung.

Dem Doktorat selbst ging pflichtgemäß ein dreijähriges Aufbaustudium voraus, das mit dem Lizenziat abschloss. Schon im zweiten Studienjahr wurde ich wissenschaftlicher Assistent bei Professor Winfried Aymans, meinem späteren Doktorvater, und war danach neben meiner Doktorarbeit auch Richter am Erzbischöflichen Metropolitan-Gericht von München und Freising und habe seelsorgerisch als Subsidiar in der Pfarrei von St. Peter (Alter Peter) am Münchener Marienplatz ausgeholfen.

Die Doktorarbeit zog sich zwei Jahre lang hin und befasste sich mit Fragen der Kirchenzugehörigkeit, inwieweit nämlich der Codex Juris Canonici des Jahres 1983 die ekklesiologischen Grundlinien des II. Vatikanischen Konzils übernommen hatte. Das Ergebnis lautete: Die Umsetzung ist gelungen, wenngleich kritische Einwände zum handwerklichen Umsetzungsprozess anzufügen waren.

Die Untersuchung verlangte die genaue Sichtung und Prüfung einer großen Anzahl von Dokumenten und wissenschaftlichen Veröffentlichungen und forderte eine äußerst spartanische Zeiteinteilung, fast ohne Freizeit, in großer Konzentration, um die vielschichtigen Aspekte und Zusammenhänge eines höchst komplexen Themas zu einem schlüssigen Gesamtbild zusammenzufassen und den Befund überzeugend auszuformulieren. Das Ergebnis hat rund 270 Seiten und wurde in einer renommierten wissenschaftlichen Reihe veröffentlicht.

Kaum weniger aufreibend war nach der schriftlichen Dissertation am Schluss aber noch die Vorbereitung und das Bestehen einer mündlichen Prüfung, in der ich 1993 zwei Stunden lang drei scharf insistierenden Professoren als Examinatoren gegenübersaß. Das Ergebnis ließ alle Anstrengungen als gerechtfertigt erscheinen: Es gab ein „summa cum laude“ für meine Bemühungen, eine enorme Befriedigung, Freude und Genugtuung.

Ein herrlicher Doktorschmaus mit der ganzen Familie und den beteiligten Professoren schloss meine Münchener Doktoratszeit ab, in der ich gleichzeitig fast sechs Jahre Assistent war. Dennoch bleibt mir die Doktorarbeit vor allem als bis dahin schwerste Prüfung meines akademischen Lebens in Erinnerung – und als herausragende Probe für viele Prüfungen und Herausforderungen, die danach noch folgen sollten.

Thilo Sarrazin: Der Zug war schon abgefahren

Meine Doktorarbeit habe ich im Alter von 27/28 Jahren neben meiner Tätigkeit als Assistent am Institut für Industrie- und Verkehrspolitik geschrieben. Die Arbeit an der Doktorarbeit dauerte knapp ein Jahr und war Gründonnerstag 1973 abgeschlossen. Geholfen hat keiner. Doktorvater war Prof. Dr. Fritz Voigt, Kogutachter der Wirtschaftshistoriker Prof. Pohl vom Historischen Seminar.

Im Rigorosum war ich außerdem bei Prof. Dr. Horst Albach und Prof. Dr. Hieber. Die Arbeit wurde 1974 im Verlag Neue Gesellschaft unter dem Titel „Ökonomie und Logik der historischen Erklärung“ veröffentlicht und erregte eine gewisse Aufmerksamkeit. Prof. Hans-Ulrich Wehler und Prof. Jürgen Kocka luden mich aus Anlass dieser Arbeit zu einer wissenschaftlichen Tagung nach Bielefeld ein, was mich sehr stolz machte. Kurzfristig erwog ich eine akademische Laufbahn, aber mental war bei mir der Zug schon in eine andere Richtung abgefahren.

Im ersten Semester mussten wir eine Übung mit zwei Wochenstunden belegen: „Anleitung zum wissenschaftlichen Arbeiten“. Seitdem sind mir wissenschaftliche Zitier-Richtlinien genauso vertraut wie das Stoppschild an der Straßenkreuzung.

Michael Lentz: Die Freunde litten unter meiner Verbissenheit

Eine Dissertation schreibt man nicht flüchtig. Recherchen, Materialbeschaffung oder zum Beispiel die gründliche Einarbeitung in den Forschungsstand nehmen viel Zeit in Anspruch, schon im Vorfeld der eigentlichen Arbeit. Methodologische Fragen müssen geklärt werden: Mit welchen methodischen Prämissen schreibe ich die Dissertation, welcher theoretische Ansatz liegt ihr zugrunde und kann plausibel durchgeführt werden?


Meine Arbeit war weitgehend ein Forschungsdesiderat, es gab international nicht viel Sekundärliteratur zur Lautpoesie und insbesondere ihren medialen Bedingungen. Das hieß für mich auch, unter anderem nach London oder Paris zu fahren und dort in öffentlichen oder privaten Archiven zu recherchieren und das gefundene Material anschließend zu übersetzen. Bücher und Tonträger, soweit überhaupt vorhanden, habe ich gekauft. Auf diese Weise habe ich mir ein eigenes privates Archiv aufgebaut.

Eine Dissertation kann also mit erheblichem finanziellem Aufwand verbunden sein, über die Aufwendungen für den Lebensunterhalt hinaus. Mich hat glücklicherweise die Studienstiftung des Deutschen Volkes mit einem Promotionsstipendium unterstützt, ohne das ich die Arbeit, an der ich von 1993 bis einschließlich 1998 geschrieben habe, nicht geschafft hätte. In die Dissertation habe ich Herzblut investiert, sie bedeutete und bedeutet mir sehr viel, sie ist ein Teil meiner Identität.

In der Regel schreibt man nur einmal eine Promotionsarbeit, und dieses Bewusstsein hat meine Arbeit immer begleitet. Aufgrund des intensiven Zeitaufwands von bis zu zwölf Stunden am Tag bin ich nicht mehr zu sehr viel anderem gekommen.

Das hieß aber auch, die Dissertation ist eine Entscheidung fürs Leben, mit allen zwischenzeitlichen Zweifeln, Krisen und Verfluchungen; ich entwickelte eine Art Tunnelblick, einen Taumel zwischen frenetischer Begeisterung, auch Selbstbegeisterung, und Niedergeschlagenheit, wenn nichts mehr voranging. Zweifel stellten sich ein, ob der wissenschaftliche Ansatz trägt, ob ich das Projekt methodisch und kräftemäßig durchhalte. Unter der Verbissenheit, es mir selbst beweisen zu wollen, litt der gesamte Familien- und Freundeskreis.

Wenn Promovenden gleichzeitig für eine eigene Familie mit Kindern sorgen oder arbeiten gehen müssen, ist das höchst bewundernswert. Eine Dissertation sollte höchsten Ansprüchen genügen – sie ist Last und Ehre. Die Hoheit über die eigene Verfahrensweise und den Text ist unabdingbar. Herr zu Guttenberg hat das wohl grundsätzlich nicht verstanden. Eine Dissertation, die man nur flüchtig schreibt, ist keine.

Eckhart Nickel: Ich hatte ein Arrangement mit der Wirtin

Ein Bekenntnis gleich zu Beginn: Auch meine Doktorarbeit war in nuce bereits vor dem Rigorosum in einer Zeitung veröffentlicht. Indes: Der Autor war ich selbst. Und die Rezension zu Thomas Bernhards letztem Roman „Auslöschung“, die ich unter der sehr plakativen Überschrift „Der vom Rumpf getrennte Kopf“ in der Heidelberger Universitätszeitung „Ruprecht“ publizierte, war ein Jahr zuvor unter dem gleichen Titel als Seminararbeit im Hauptseminar „Literaturkritik“ bei meinem Lehrer Herrn Dr. Gerhard vom Hofe eingereicht worden. Er hatte die „rasant geschriebene Kritik“ als „sehr gut“ bewertet und empfahl mir, die darin angedeutete neue These zum Werk des österreichischen Großmeisters doch zu einer Dissertation auszubauen.

Mein Studium verdiente ich als Barkeeper im Caféhaus „Burckardt“ in der Unteren Straße. Der Vorteil bestand darin, dass ich für die Zeit meiner Promotion ein Arrangement mit der großzügigen Wirtin Uli Zierl treffen konnte, das mir zu einem Pauschalpreis täglichen Mittagstisch garantierte und mich somit mühelos den eher asketischen Wissenschaftsalltag in der Universitätsbibliothek auch kulinarisch überleben ließ.

Ein paar Skurrilitäten am Rande: Um mich auch formal zu motivieren, begab ich mich nie ohne eine gestreifte Krawatte von Brooks Brothers an den Büchertisch. Das Dokument, mit dem ein nicht hundertprozentig geschickt ausgesuchter Zweitkorrektor seine Bereitwilligkeit, meine Arbeit zu bewerten, unterzeichnete, trägt anstelle des vollständigen Titels meiner Dissertation lediglich das Kürzel „Flan“, weist also einen iberischen Karamellpudding als Thema meiner Arbeit aus.

Der Zweitkorrektor, der im zweifelhaften Ruf stand, bei seiner Vorlesung zur Moderne lediglich aus einem selbst verfassten Reclamheftchen zum Thema zu zitieren, bemängelte an meinen Ausführungen den „Feuilletonismus“ (ergo die Lesbarkeit der Arbeit jenseits des germanistischen Fachpublikums) und kritisierte namentlich die „unverantwortliche Beredsamkeit des Verfassers“, was ich etwas naiv eigentlich als großes Lob verstand.

Das Café „Burckardt“ war auch in weiterer Hinsicht wichtig: Hier lernte ich den späteren Verleger meiner Dissertation kennen, den universalen Privatgelehrten Frank Würker, der neben seinem Stammtisch eine kleine Bibliothek in der Wand versenkt hatte. Ihm ist es zu verdanken, dass meine Arbeit nicht als Broschur in einem langweiligen Fachverlag ihr Geistesleben beendete, sondern gebunden in meiner Lieblingsfarbe Flaschengrün als ordentliches Buch namens „Flaneur: Die Ermöglichung der Lebenskunst im Spätwerk Thomas Bernhards“ erschien: in Würkers exklusivem Manutius Verlag.

Heidelberg mit seiner ästhetisch hoch inspirierenden Geistesgeschichte vom George-Kreis bis zu Gadamer ist eine intellektuelle Konstante meines Lebens geblieben: in Freundschaft zu dem akademischen Lehrer, der mich wie kein anderer, wie es so schön heißt, gefordert und gefördert hat, und mit dem ich bis zum heutigen Tag Privatseminare alter Schule und Lektürekurse veranstalte: dem Dandy-Experten Herrn Dr. Stefan Buck.