Sexueller Missbrauch, Enttäuschung, Vertrauensverlust: Die Schuld an den Austrittswellen liegt vor allem bei den Kirchen selbst.

Eine Lawine von sexuellen Missbrauchsfällen und drei spektakuläre Bischofsrücktritte – für Katholiken und Protestanten in Deutschland ist 2010 das Jahr der Krisen. Ein „Annus horribilis“ (schreckliches Jahr) vor allem für die katholische Kirche. Am 20. Januar berichtet der Jesuit Klaus Mertes (56), Rektor des angesehenen Berliner Canisiuskollegs, in einem Brief an rund 600 ehemalige Schüler und Schülerinnen „mit tiefer Erschütterung und Scham“ über „systematische und jahrelange“ sexuelle Übergriffe von Patres. Acht Tage später zitiert die „Berliner Morgenpost“ als erste Zeitung aus dem Schreiben. Eine bundesweite Debatte über Missbrauch von Kindern und Jugendlichen ist angestoßen. Täglich werden neue Sexskandale in kirchlichen Einrichtungen, Internaten, Klöstern, Pfarreien, bekannt.

"So entsetzlich, als wenn sie heute geschehen wären."

Die meisten Verfehlungen liegen zwar lange zurück, aber die Bischöfe sind sich einig: Die Affären wirken „so entsetzlich, wie wenn sie heute geschehen wären“. Papst Benedikt XVI. verurteilt die Untaten, Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) spricht von einer „Bewährungsprobe für die ganze Gesellschaft“, das Missbrauchsthema dominiert die Frühjahrsversammlung der Deutschen Bischofskonferenz in Freiburg. Ihr Vorsitzender, Robert Zollitsch (72), entschuldigt sich bei den Opfern. Der Trierer Bischof Stephan Ackermann (47) wird als „Missbrauchsbeauftragter“ eingesetzt.

Die 2002 verabschiedeten kirchlichen Leitlinien zum Umgang mit sexuellem Missbrauch werden verschärft, zum 1. September treten sie in Kraft. Jeder Verdachtsfall soll angezeigt werden, es sei denn das Opfer widerspricht. Es gehe um ein „ausgewogenes Verhältnis zwischen Anzeigepflicht und Opferschutz“, sagt Bischof Ackermann. Ein „Präventionskonzept“ wird vorgestellt, nach zähen Beratungen auch ein Opfer-Entschädigungsmodell: Geld, Therapien und besondere Hilfe für sogenannte Härtefälle.

Kommunikationsmängel werden eingestanden, insoweit erweist sich die katholische Kirche als lernendes System – und sie möchte in ihrer „Vorreiterrolle“ bei der Auseinandersetzung mit den Ursachen des Kindesmissbrauchs in Schulen, Vereinen und Familien wahrgenommen werden. Doch die Vertrauenskrise greift tiefer, als die Empörung über die Skandale vermuten lassen.

Religionssoziologen sprechen von einer geradezu bleiernen Atmosphäre. Unter diesem Eindruck kündigt der Episkopat einen „Dialogprozess“ an, in den die Laien einbezogen werden – selten ist soviel über ihre Bedeutung für das kirchliche Leben gesprochen worden wie 2010. Ein Nachdenken über christliches Menschenbild und Sexualmoral kommt in Gang, auch die Zölibatsfrage wird thematisiert.

Die Diskussion über Fehler und Versäumnisse ist damit freilich nicht beendet. Ganz im Gegenteil. Anfang Dezember bringt ein von Kardinal Reinhard Marx (57) in Auftrag gegebenes Gutachten der Juristin Marion Westphal an den Tag, dass in seiner Münchener Erzdiözese, der von 1977 bis 1981 der heutige Papst vorstand, „der Ungeist der Vertuschung erfolgreich war“. Westphal hat rund 13.200 Akten aus den Jahren 1945 bis 2009 durchgearbeitet. Die Prüfung ergibt, dass 159 Priester „auffällig“ geworden sind, die tatsächliche Zahl dürfte aber weit höher liegen.

"Falsch verstandenes brüderliches Durcheinander"

Die Juristin rügt Unterlagenvernichtung im großen Stil, einen „verharmlosenden Sprachgebrauch“ in vielen Schriftstücken, ein falsch verstandenes „brüderliches Miteinander“ von Klerikern und eine Missachtung der Opfer. Dokumente verschwanden in „Geheimarchiven“, einige wurden durch Zufall im Nachlass von Priestern entdeckt. Erzbischof Marx, erst seit 2008 in München, empfindet Scham und Traurigkeit. „Es waren die sicher schlimmsten Monate meines Lebens“, bekennt Marx.

Der Erkenntnisgrad des Gutachtens sei hoch, „aber auch sehr schockierend“, kommentiert die amtskirchenkritische Gruppierung „Wir sind Kirche“. Sie nennt es bedauerlich, dass die Amtszeit des früheren Erzbischofs Joseph Ratzinger „ein blinder Fleck geblieben ist“. Offenbar hänge dies mit der Aktenvernichtung zusammen. Die Gutachter hatten nur einen Beleg gefunden, dass Ratzinger persönlich in einen Missbrauchsfall eingeschaltet war. Die Aufarbeitung der Affären müsse mit einem „gewaltigen Kultur- und Klimawechsel“ in der Kirche einhergehen, sagt der Münchener Generalvikar Peter Beer (44).

Die Kirche als "vollkommene Gesellschaft"

Wer nach den Ursachen der Vertrauenskrise forscht, nach den Gründen der Vertuschungsmentalität, stößt auf das Faktum, dass die alte Vorstellung von der „societas perfecta“ (vollkommene Gemeinschaft) weiter wirkte. Die Kirche als Heilsinstitut fühlte sich mit ihrer Gewalt allen anderen Gewalten, auch den staatlichen, überlegen. Die falsche Sorge, die Kirche dürfe unter keinen Umständen beschmutzt werden, indem Missetaten von Klerikern bekannt werden, hat mit zu der Glaubwürdigkeitskrise geführt.

Keine kirchliche Stellungnahme kommt deshalb seit dem Missbrauchsskandal ohne das Wort „Neuanfang“ aus, das gilt auch nach dem Fall Walter Mixa (69). Der Augsburger Bischof, ein Wortführer des betont konservativen Kirchenflügels, wird kurz vor Ostern beschuldigt, als früherer Stadtpfarrer von Schrobenhausen Heimkinder geschlagen und Stiftungsgeld satzungswidrig verwendet zu haben. Mixa gibt nur die eine oder andere „Watschen“ zu, bietet aber am 21. April nach Gesprächen mit Zollitsch und Marx dem Papst den Rücktritt an, auch von seiner Funktion als Militärbischof.

Ein Gerücht, Mixa habe sich eines sexuellen Übergriffs gegenüber einem Minderjährigen schuldig gemacht, erweist sich als substanzlos. Der Bischof kämpft vorübergehend um sein Amt, doch am 8. Mai wird in Rom seine Ablösung bekanntgegeben. Der Papst ernennt den Görlitzer Oberhirten Konrad Zdarsa (66) zum Nachfolger. Einen neuen Militärbischof gibt es bis zur Stunde nicht. Auch die Karrieren zweier evangelischer Theologinnen, die je auf ihre Weise Kirchengeschichte geschrieben haben, werden 2010 jäh gestoppt. Margot Käßmann (52), hannoversche Landesbischöfin, ist erst vier Monate Ratsvorsitzende der EKD, die erste Frau in diesem repräsentativen Amt, als sie am 24. Februar auf einer kurzen Pressekonferenz ihren Rücktritt erklärt – wegen Alkohol am Steuer (1,54 Promille).

„Bleibe bei dem, was Dir Dein Herz sagt“, so begründete sie ihre Entscheidung. „Die Freiheit, ethische und politische Herausforderungen zu benennen, hätte ich in Zukunft nicht mehr so, wie ich sie hatte.“ In Predigten zur Jahreswende hat die Bischöfin mit ihren Vorbehalten gegen das militärische Engagement am Hindukusch nicht hinterm Berg gehalten: „Nichts ist gut in Afghanistan.“ Selbst prominente Kirchenvertreter gehen, wenn auch vorsichtig, auf Distanz zu Käßmann.

Ihr Rücktritt löst allerdings eine Welle von Sympathiebekundungen aus, im Mai ist die Ex-Bischöfin der „Star“ des Ökumenischen Kirchentags in München. Ihr Nachfolger wird im November der rheinische Präses Nikolaus Schneider (63). Der konziliante Geistliche gibt sich Mühe, nicht als Alternativprogramm zu Käßmann wahrgenommen zu werden. Er ist selber ein politischer Kopf, der sich in gesellschaftlichen Debatten vernehmbar zu Wort meldet. Aber Schneider hat auch eine neue protestantische Sehnsucht nach Spiritualität registriert, nach Seelsorge. Er will die politische Polarisierung zurückdrehen. Kirche sei „nicht die bessere Partei“, ist von ihm immer wieder zu hören.

Es geht um Glaubwürdigkeit

Um Glaubwürdigkeit geht es. Anders lässt sich die Botschaft des Evangeliums nicht weiter sagen. Davon hat sich auch die nordelbische Bischöfin Maria Jepsen (65) überzeugen lassen. Am 16. Juli, kurz nach 17 Uhr, genügen ihr zwei Minuten, um ihren Rücktritt zu erklären. Sie ist wegen ihres Umgangs mit Missbrauchsvorwürfen gegen einen Pastor in Ahrensburg in die Kritik geraten. Der mittlerweile pensionierte Geistliche soll vor allem in den 80er-Jahren Jungen und Mädchen missbraucht haben. Jepsen, so hieß es, sei schon 1999 über den Fall informiert worden. Eine Initiative von Betroffenen verteidigt die Bischöfin: „Wir können keine unmittelbare Schuld von Frau Jepsen feststellen.“ Die feministische Theologin war 1992 zur Bischöfin von Hamburg und damit zur ersten evangelisch-lutherischen Bischöfin der Welt gewählt worden. Sie hätte die Affäre um den Ahrensburger Missbrauchsfall aussitzen können, es fehlte nicht an Rückendeckung. Aber mit ihrem freiwilligen Rücktritt setzte sie ein Zeichen, auch in Richtung der katholischen Kirche.