Schon nach wenigen Metern kommt uns Weihnachten in die Quere. Der Mittelstreifen der Tauentzienstraße ist mit überdimensionalen Lichterbuchstaben blockiert. B-E-R-L-I-N. Matthias Heskamp, 46, ist vorgefahren und dreht sich mit einem Stirnrunzeln zu mir um: „Das ist doch ignorant.“ Was er in etwa meint: Es kann ja wohl nicht sein, dass Weihnachtsdeko den öffentlichen Weg blockiert.
Berlin platzt aus allen Nähten, heißt es immer, was tun gegen den drohenden Infarkt? Falsch, sagt Heskamp, in Berlin ist Platz genug. „Wir müssen ihn uns nur zurückerobern.“ Heskamp ist Architekt und Fahrradfahrer aus Leidenschaft. Beides hat er zusammen mit seinem Team in einer Vision verarbeitet: Ein moderner Radweg quer durch Berlin. Ohne Hindernisse. Ohne Stress. Die „Radbahn Berlin“, eine neun Kilometer lange Strecke vom Bahnhof Zoo bis zur Oberbaumbrücke. Nicht in Form neuer Radwege am Straßenrand, sondern ab durch die Mitte. Heskamp will mir zeigen, dass das mehr ist als eine verrückte Idee.
Am Breitscheidplatz herrscht das übliche Gewusel, die übliche Enge, eine Spur für Busse, eine für Autos. Kein Radweg. „Wenn Touristen hier mit dem Fahrrad ankommen, wissen sie gar nicht, wo sie fahren sollen“, sagt Heskamp. Als Orientierungspunkt müsse hier zunächst ein „Fahrradbahnhof“ entstehen – eine Anlaufstelle mit Leihfahrrädern, Werkstatt und Infostand. Dann losfahren, auf dem neu gestalteten Mittelstreifen.
Niemand muss im Regen fahren
Heute befinden sich hier Grünflächen an den Rändern, dazwischen ein breiter, kaum genutzter Fußweg. „Die Stelle ist breit genug, um einen Radweg in der Mitte oder an den Seiten zu bauen“, ist Heskamp überzeugt. Fuß- und Radweg könnten etwa durch Bäume von der Straße getrennt sein.
Weil es in der Gegenwart hier nicht weitergeht, fahren wir auf die Straße und reihen uns in der Busspur ein. Die nächsten zehn Minuten füttert mich Heskamp mit Details. Auf der Radbahn muss keiner an roten Ampeln stehen, sagt er. Ein digitales Leitsystem zeigt an, mit welcher Geschwindigkeit die Radler für eine grüne Welle unterwegs sein müssen. Rund 20 Kilometer pro Stunde, grob geschätzt. Ein spezieller Bodenbelag könnte das Tageslicht absorbieren und im Dunkeln leuchten. Und keiner müsste nass werden.
Wir haben den Nollendorfplatz erreicht. Hier verlässt die U2 den Untergrund und fährt als Hochbahn weiter. Ein 120 Jahre alter Schutz vor Schnee und Regen. Es klappt tatsächlich, wir fahren jetzt unter der Trasse. Nachdem wir den Gleisdreieckpark durchquert haben, wird es jedoch heikel. Um der Hochbahn zu folgen, müssen wir den Landwehrkanal überqueren.
Hier plant das Radbahn-Team eine Art Hängebrücke unter der Trasse. Bautechnisch wurde das noch nicht geprüft, doch Heskamp und sein Team sind überzeugt, dass es klappen kann. Und alternativ könnte die bereits vorhandene Brücke entlang der Schöneberger Straße genutzt werden.
80 Prozent sind theoretisch schon nutzbar
Es geht weiter unter der U1. Auch hier zwingen uns parkende Autos immer wieder auf die Straße. Seit 15 Jahren, so hat es der Bundestagsabgeordnete Hans-Christian Ströbele (Grüne) dem Radbahn-Team verraten, suchen sie in Friedrichshain-Kreuzberg nach einer Lösung für einen geeigneten Radweg. Ohne Erfolg.
Doch je länger wir unterwegs sind, desto mehr wird mir klar, was Heskamp meint: Der Platz ist da, doch er wird nicht genutzt. An vielen Stellen unter der Hochbahn gibt es Gehwege, die menschenleer sind. Und es müsste hinkommen, was sie errechnet haben: 80 Prozent der Strecke sind theoretisch schon nutzbar.
Hinter dem Halleschen Tor wird es gefährlich. Wir fahren am Straßenrand dicht nebeneinander, nehmen nicht mehr Platz ein als die 1,60 Meter, die ein Radweg mindestens breit sein soll. Und werden doch mehrmals angehupt, denn einen Radweg gibt es nicht. „Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Unfalltod“, hat ein Autofahrer hier letztens einem Kollegen zugerufen. Heskamp erzählt, dass laut einer Statistik 25 Prozent der Bevölkerung nicht auf das Rad steigt, weil sie Angst hat. Erst hinter dem Kottbusser Tor stoßen wir endlich auf einen ausgewiesenen Radweg, der erste überhaupt nach fast sieben Kilometern.
Experten halten Radbahn für nicht realisierbar
Heskamp hat letztens eine Rede von Berlins Bürgermeister Michael Müller (SPD) gehört. Der Verkehr müsse so gestaltet sein, dass er die Anforderungen der Zukunft schnell bewältigen kann. Heskamp findet das richtig, versteht aber trotzdem nicht, warum die Bezirke sich eher für den Autoverkehr starkmachen.
An der Oberbaumbrücke erzähle ich ihm vom Unwillen des Senats, der behauptet, dass die Radbahn finanziell und technisch kaum umsetzbar sei. Und dass nicht mal der Fahrradclub ADFC an eine Realisierung glaube. Heskamp kann das nicht schrecken. Es gebe da noch eine Prognose: In 20 Jahren gebe es in Städten nur noch 20 Prozent der Autos. „Und selbst wenn die Radbahn nicht gebaut wird, wird es andere Radwege geben.“
Auf dem Rückweg werde ich von elf roten Ampeln ausgebremst, von zwei Autos geschnitten und sehe mich mindestens einmal gezwungen, lautstark zu schimpfen. Meine Kleidung ist feucht, weil ich auf den letzten Metern noch in einen Regenschauer gekommen bin. Ich will diese Radbahn.