Otto Schily

"Es gibt in Deutschland ein Gefährdungspotenzial"

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Martin Lutz und Claus Christian Malzahn

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Als Innenminister kämpfte Schily vor zehn Jahren gegen die Terrorgefahr. Im Morgenpost Online-Interview spricht er über neue Risiken – und ein Bürgerrecht.

rinnert sich der damalige Bundesinnenminister Otto Schily (SPD) an den Schrecken und die Nervosität dieser Zeit – aber auch an die entschlossene Reaktion der deutschen Regierung auf die neue Gefahr. Mitten in das Interview platzte die Meldung der Festnahme zweier Terrorverdächtiger in Berlin .

Morgenpost Online: Herr Schily, in Berlin wurden jetzt kurz vor dem Jahrestag der Terroranschläge von New York und Washington zwei Verdächtige festgenommen. Ist die Anschlagsgefahr noch immer nicht gebannt?

Otto Schily: Nach Erkenntnissen des Bundesministeriums des Innern gibt es in Deutschland fast 1000 Personen, die man als mögliche islamistische Terroristen bezeichnen könnte. Davon wiederum werden 128 Personen als Gefährder eingestuft, also Personen, bei denen Tatsachen die Annahme rechtfertigen, dass sie erhebliche Straftaten begehen könnten. Es gibt also auch in Deutschland ein durchaus ernst zu nehmendes Gefährdungspotenzial.

Morgenpost Online: Die beiden Verdächtigen sollen einen Anschlag geplant und dafür Chemikalien gekauft haben. Sind die Regeln für den Erwerb solcher Substanzen streng genug?

Schily: Sprengsätze lassen sich leider mit relativ einfachen Mitteln herstellen, und Anleitungen dazu werden sogar im Internet verbreitet. Ich bin skeptisch, ob strengere Regeln für den Erwerb bestimmter Substanzen erfolgversprechend sind.

Morgenpost Online: Spielen manche islamische Einrichtungen bei der Radikalisierung von Terroristen eine unrühmliche Rolle?

Schily: Sollte sich erweisen, dass Jugendliche in bestimmten Moscheegemeinden im Sinne einer terroristischen Motivation indoktriniert werden, kann der Staat nicht tatenlos zusehen. Wir sind aber dabei besonders auf die Mithilfe unserer in der überwiegenden Mehrzahl redlichen muslimischen Mitbürger angewiesen, um solchen Tendenzen entgegenzuwirken.

Morgenpost Online: Zwischen dem 9. November 1989 und dem 11. September 2001 liegen genau 4324 Tage. Sowohl der Mauerfall als auch die Anschläge auf das World Trade Center und das Pentagon markieren Anfang und Ende von politischen Epochen.

Schily: Es ist interessant, dass Sie diese beiden Weltereignisse miteinander in Beziehung setzen. Der Mauerfall war ein glückliches Ereignis. Es hat uns damals auch so enthusiastisch gestimmt, weil die mit dem Fall der Mauer verbundenen Entwicklungen gewaltfrei vonstatten gingen. Das bleibt in der deutschen Geschichte unvergessen. Was am 11. September 2001 geschah, war mit seiner entsetzlichen Brutalität und diabolischen Fantasie eine der schrecklichsten Gewalttaten, die wir kennen. Das bedeutet eine tiefe Zäsur in der Menschheitsgeschichte. Ich hoffe, dass diese Zeit mit dem Tod Bin Ladens nun einen gewissen Schlusspunkt gefunden hat.

Morgenpost Online: Am 11. September wurde vor allem New York getroffen. Fast jeder Mensch der westlichen Welt hat ein Verhältnis zu dieser Metropole.

Schily: Ja, da wurde eine Stadt angegriffen, die als Sitz der Vereinten Nationen eine Art Welthauptstadt ist. Sie war oft Fluchtpunkt für Menschen, die der nazistischen oder stalinistischen Diktatur entflohen sind. Unter den Opfern des Anschlags fanden sich Angehörige aller großen Religionen und vieler Länder. Auch deshalb sind der 9. November und der 11. September historische Antipoden.

Morgenpost Online: Beide Ereignisse kamen sehr überraschend. Alles änderte sich, alte Gewissheiten galten nicht mehr.

Schily: Es gab vorher auch schon Terroranschläge, sogar auf das World Trade Center. Aber die Tiefendimension des islamistischen Terrorismus wurde erst am 11. September deutlich. Niemand hat sich vorher vorstellen können, dass jemand auf die gespenstische Idee kommen kann, zwei Flugzeuge zu entführen und in Hochhäuser zu steuern. Diese Bilder werden uns nie wieder verlassen. Bis an mein Lebensende werde ich das nicht vergessen.

Morgenpost Online: Und man weiß genau, wo man an solchen Tagen war.

Schily: Richtig. Ich war zu Hause und bereitete mich auf eine Haushaltsdebatte des Bundestages vor, las in meinem Redemanuskript. Dann rief mein Ministerbüro an und sagte, ich solle den Fernseher einschalten. Was ich sah, wirkte fast irreal. Ich dachte zunächst an einen tragischen Unfall. Als die zweite Maschine dann den Tower traf, war mir klar, dass wir es mit einem schrecklichen Verbrechen zu tun hatten.

Morgenpost Online: Manche Politiker und Journalisten haben 9/11 als Zeitenwende interpretiert. Teilen Sie das?

Schily: Zeitenwende scheint mir etwas hoch gegriffen. Aber eine Zäsur war das allemal. Die USA sind in ihrem Heimatland noch nie angegriffen worden. Das war ein Trauma, selbst mit Pearl Harbour kaum zu vergleichen.

Morgenpost Online: Die USA interpretierten 9/11 als Kriegserklärung.

Schily: Ich würde die Anschläge als Verbrechen klassifizieren. Aber wir kamen doch schon auf dem Balkan in die seltsame Situation, dass wir Verbrechensbekämpfung mit militärischen Mitteln durchsetzen mussten. Damals intervenierte die Nato in Sarajevo und später im Kosovo, um einen Völkermord zu verhindern. In Afghanistan sind wir aber über die Jahre in eine sehr schwierige Situation geraten. War die Gleichsetzung von al-Qaida und den Taliban richtig? Ich sage ganz offen: Meine Zweifel sind gewachsen, ob man Terroristen in dieser Weise bekämpfen kann.

Morgenpost Online: Der US-Schriftsteller Sebastian Junger vertritt die These, dass der Krieg in Afghanistan gegen die Taliban im Sommer 2002 eigentlich gewonnen war – und dann wieder verloren wurde, weil sich die USA mehr für den Irak interessierte und die Europäer kein Interesse an einer Aufstockung ihrer Truppen hatten.

Schily: Das kann man vertreten. Ich war in den ersten Jahren nach dem Fall des Taliban-Regimes ebenfalls öfters in Afghanistan und hatte die Hoffnung, es könne sich gut entwickeln. Doch mit den Jahren haben immer mehr Afghanen die Präsenz der Nato-Truppen als Fremdherrschaft begriffen. Das versteht man schon, wenn man Bilder sieht, wie sich paschtunische Stammesälteste mit westlichen Militärvertretern treffen: Der eine kommt mit Turban und seinem Gewand, der andere in Uniform mit modernsten Waffen im Gepäck. Wem gehören da die Sympathien?

Das Land ist stark durch traditionelle Stammesstrukturen geprägt, die vor Ländergrenzen keinen Halt machen. Karzais Herrschaft reichte doch nie über die Grenzen Kabuls hinaus. Die Kriegsführung, die die Amerikaner betrieben haben, war über Jahre leider kontraproduktiv. Wenn dort Dörfer bombardiert wurden, hat man vielleicht ein paar Terroristen getötet – aber gleichzeitig neue produziert.

Morgenpost Online: Diese Kriegsführung haben die Amerikaner verändert. Was auch dazu führte, dass deutschen Soldaten, die jüngst in einen Hinterhalt der Taliban gerieten, aus der Luft nicht beigestanden werden konnte, weil man Zivilisten nicht gefährden wollte.

Schily: Das macht das ganze Dilemma aus. Wir stecken in Afghanistan in einer Sackgasse und finden keinen Ausweg. Inzwischen verhandeln die USA mit den Taliban. Was uns auch in Widersprüche verwickelt. Wie will ich den Eltern eines in Afghanistan gefallenen Soldaten erklären, dass wir gerade mit seinen Mördern Tee trinken und Modalitäten besprechen, ob wir sie in eine künftige Regierung in Kabul aufnehmen?

Morgenpost Online: Mit der Rückschau von zehn Jahren wird der Afghanistan-Einsatz überall noch einmal bilanziert. Der „Spiegel“ behauptet jetzt, die rot-grüne-Regierung hätte sich den Amerikanern mit dem Angebot militärischen Beistands geradezu aufgedrängt . Sie waren damals Innenminister. Stimmt das?

Schily: Das halte ich für überzogen. Reingedrängelt haben wir uns da nicht. Aber Bundeskanzler Gerhard Schröder hatte recht, als er den Amerikanern unsere uneingeschränkte Solidarität verkündete. Für die USA waren dieser Terrorangriff ein unglaubliches Trauma. Und wir konnten damals auch nicht vergessen, was die Amerikaner für uns Deutsche alles getan hatten. Ohne das Opfer amerikanischer Soldaten gäbe es in Deutschland keine Demokratie. Das sage ich als jemand, der 1932 geboren wurde und sich an den Krieg und die Zeit nach 1945 gut erinnern kann.

Hätten wir der amerikanischen Regierung am 12. September sagen sollen: Ja, tut uns leid, was da geschehen ist, aber jetzt seht mal, wie ihr alleine damit klar kommt? – Das ist ja absurd. Es war politisch ungeheuer wichtig, den Amerikanern zu versichern: Wir stehen an Eurer Seite.

Morgenpost Online: Die Entscheidung zur deutschen Beteiligung im Afghanistan-Krieg war sozusagen alternativlos?

Schily: Nein, diese Vokabel halte ich eh für blödsinnig. Leider greift sie um sich. Man hat im Leben aber immer zwei Möglichkeiten. Im Rückblick sage ich jedoch: Es war völlig richtig, das Schröder sich damals so klar geäußert hat und Taten folgten.

Morgenpost Online: Die rot-grüne Regierung, aber auch die danach kamen, haben sich lange gescheut, den Krieg in Afghanistan einen Krieg zu nennen. Ein Fehler?

Schily: Ich verstehe die Zurückhaltung. Für das, was in Afghanistan passiert, fehlen uns manchmal die Begriffe. Die Feinde dort werden „enemy combatants“ genannt, feindliche Kombattanten. Es sind keine Soldaten. Aber sie unterstehen offensichtlich einer militärischen Struktur und einem Kommando. Wie man das rechtlich einhegt, ist sehr umstritten. Daraus resultiert immer die Gefahr, dass wir am Ende Dinge tun, die wir unseren Gegnern vorwerfen.

Die größten Niederlagen im Kampf gegen den Terror erleben wir immer dann, wenn wir unsere rechtlichen Grundlagen aufgeben. Denken Sie nur an die furchtbaren Menschenrechtsverletzungen in Abu Ghraib. Die Bilder der gefolterten Irakis gingen um die Welt. Was für eine moralische Niederlage des Westens! Unsere Trümpfe sind Freiheit, Demokratie, Menschenrechte. Das dürfen wir nie vergessen.

Morgenpost Online: „Die Terroristen sollten aber wissen: Wenn ihr den Tod so liebt, dann könnt ihr ihn haben“, haben Sie als Innenminister gesagt – für diese Bemerkung wurden Sie heftig kritisiert.

Schily: Dieser Satz wird oft aus dem Zusammenhang gerissen. Ich bezog mich auf die Aussagen eines Hasspredigers, der gesagt hat: Ihr im Westen liebt das Leben, wir aber lieben den Tod. Meine Aussage war eine Replik auf diesen Fatalismus. Ich wollte klar machen: Wenn ihr uns angreift, werden wir uns wehren.

Morgenpost Online: Deutschland ist bisher von einem großen Anschlag verschont geblieben. Hatten wir im Gegensatz zu Großbritannien und Spanien Glück?

Schily: Glück hatten wir auch. Aber das sage ich nun selbstbewusst und mit großem Lob und Anerkennung für unsere Sicherheitsbehörden: Es war richtig, wie wir nach dem 11. September reagiert haben. Wir haben die Befugnisse der Behörden erheblich erweitert. Immer mit der Zielrichtung der Früherkennung von Entwicklungen, von möglichen Gefährdungen.

Damals war das heftig umstritten, inzwischen sehen fast alle ein, dass diese Schritte notwendig waren. So ist es uns gelungen, sämtliche Anschlagsplanungen, die auf Deutschland gerichtet waren, rechtzeitig aufzudecken. Das ist eine große Leistung. An der einen oder anderen Stelle ist uns auch das Glück zu Hilfe gekommen, etwa 2006 bei dem vereitelten Sprengstoffanschlag der Kofferbomber von Köln. Aber auch da hat sich die Videoüberwachung an Bahnanlagen bewährt.

Morgenpost Online: Die FDP sperrt sich bis heute gegen die Vorratsdatenspeicherung.

Schily: Ja, leider vor allem das Justizministerium unter der Leitung von Leutheusser-Schnarrenberger. Die liegt mit ihren Argumenten völlig daneben. Da wird von Totalüberwachung geredet. Was für ein Unsinn. Diese Diskussion ist völlig entglitten. Was ist an der Speicherung von Daten verwerflich? Es werden ja keineswegs alle Bürger überwacht, sondern auf diese Daten wird nur im Fall eines Verdachts zugegriffen. Eine Neuregelung der Vorratsdatenspeicherung ist dringend erforderlich. Dass sie bisher nicht zustande kommt, ist ein Trauerspiel. Die FDP muss aufpassen, dass sie sich nicht an der falschen Stelle profiliert. Die Menschen wollen Sicherheit, um ihre Freiheit zu schützen.

Morgenpost Online: Die FDP fürchtet die Beschneidung von Bürgerrechten.

Schily: Ich kann überhaupt nicht verstehen, warum dieser Gegensatz von Freiheit und Bürgerrechten immer konstruiert wird. Die tiefste Verletzung von Bürgerrechten geschieht durch Terrorismus. Wo bleiben denn meine Bürgerrechte, wenn ich bei einem Anschlag, der vielleicht hätte verhindert werden können, einen schrecklichen Tod sterbe? Das Recht auf Schutz vor Terror ist doch ein Kern von Freiheitsrechten.

Morgenpost Online: Welche Rechte haben Terroristen?

Schily: Alle, die der Rechtsstaat bereit hält. Außerdem sollten wir die Hoffnung nicht aufgeben, dass Menschen sich ändern. In Libyen sind an der neuen Regierung ja dem Vernehmen nach auch ehemalige islamistische Kämpfer beteiligt.

Morgenpost Online: Der Terroranschlag, der uns in diesem Jahr in Europa wohl am meisten beschäftigt hat, war das Massaker von Oslo. War das letztlich auch eine Folge von 9/11?

Schily: Das sehe ich nicht so. Anders Breivik ist ein Einzeltäter, der in einer seltsamen Wahnwelt lebt. Sein schreckliches Attentat lässt sich eher mit den Amokläufen in Erfurt und Winnenden oder dem Oklahoma-Bomber vergleichen. Es hat mich beeindruckt, wie gelassen Norwegen auf diese schreckliche Tat reagiert hat. Allerdings verstehe ich nicht, warum die Polizei dort so lange gebraucht hat, um auf die von Breivik angegriffene Ferieninsel zu gelangen. Es ist unbegreiflich, dass dafür keine Schnellboote und Hubschrauber bereitstanden.

Morgenpost Online: Wünschen Sie sich die Gelassenheit der Norweger auch in Deutschland?

Schily: Ja, wir Deutschen neigen manchmal zur Hysterie. Gelassenheit kann man auch den Briten und Spaniern attestieren, nach den Terroranschlägen von London und Madrid. Ich möchte nicht wissen, was in Deutschland passieren würde, wenn wir ein solches Ereignis zu verkraften hätten. Die aufgeregte Sicherheitsdebatte nach dem norwegischen Attentat, die in Deutschland geführt wurde, war kein Ruhmesblatt.

Morgenpost Online: Ihre Zeit als Minister liegt nun schon sechs Jahre zurück. Wie kann man sich Otto Schily privat vorstellen?

Schily: In Jeans und T-Shirt auf dem Traktor in meinem Olivenhain in der Toskana. Wir stellen unser eigenes Olivenöl her. Oder ich gieße meine Tomaten und freue mich meines Lebens.

Morgenpost Online: Gibt es für Sie einen Ruhestand?

Schily: Ich bin noch nicht ganz in der Vita contemplativa angekommen. Zum einen arbeite ich als Anwalt, zum anderen habe ich eine Consultingfirma, die auch Industriefirmen berät. Mein Credo habe ich von Francis Bacon übernommen: „Denke daran, dass dein Leben begrenzt ist, und achte darauf, öfter mal etwas Neues zu machen.“