Der Protest gegen die Einheitswippe ist lediglich ein Ritual. Den Kritikern gehe es um die Ablehnung des Neuen, meint Hajo Schumacher.

Die Pariser waren auf den Barrikaden. Schriftsteller, Maler, Bildhauer, Architekten und ganz normale Bürger veröffentlichten einen Wutbrief mit folgendem Wortlaut: “Als leidenschaftliche Liebhaber der bisher unangetasteten Schönheit von Paris protestieren wir im Namen des verkannten französischen Geschmacks mit aller Kraft gegen die Errichtung des unnötigen und ungeheuerlichen Turms im Herzen unserer Hauptstadt, den die oft vom gesunden Menschenverstand und Gerechtigkeitsgefühl inspirierte Spottlust der Volksseele schon den `Turm zu Babel´ getauft hat.“

In der Tat: Es handelte sich um ein überflüssiges Bauwerk ohne jede Funktion, aus Abertausenden Tonnen Stahl zusammengenietet, das, so die Kritiker, „wie ein riesiger, düsterer Fabrikschlot Paris überragt, alle unsere Monumente demütigt, alle unsere Bauten verkleinert, bis sie in diesem Alptraum verschwinden.“ Worum mag es gegangen sein? Richtig - den Eiffelturm. Der Protest der Pariser ist 130 Jahre alt und klingt doch bekannt: gesunder Menschenverstand, Geldverschwendung, Stadtbild ruiniert.

Den Kritikern geht es darum, Neues abzulehnen

So geht es fast immer, wenn nicht das Gestern im Puppenstubenstil restauriert wird. Aber selbst Berlins Retro-Monumente bestehen den Sinntest nicht. Ein Torbogen mitten in der Stadt? So ein Quatsch. Heute ist das Brandenburger Tor Berlins Wahrzeichen. Eine gigantische Säule? Die Goldelse ist eines der beliebtesten Fotomotive der Stadt. Und erst diese Dome, dieser Pomp mit all dem überflüssigen Zierat. Warum nicht ein paar effektive Zweckbauten auf den Gendarmenmarkt? Ob Holocaust-Mahnmal oder Molecular Men – immer und immer wieder verläuft die Debatte um neue Bauten, die keinem unmittelbaren Verwertungszweck gehorchen, mit ähnlichen Argumenten in ähnlichen Bahnen.

Hajo Schumacher
Hajo Schumacher © Frank Johannes | Frank Johannes

Womit wir beim Einheitsdenkmal am Humboldtforum wären, jener gewaltigen Wippe, die sich erstklassig verspotten lässt. Völlig richtig, nicht jedes Denkmal ist gelungen, manche sogar missraten. Dennoch: Protest aus reiner Veränderungspanik ist ein Ritual, bei dem Ästhetik nur vorgeschoben wird. Im Kern geht es den Kritikern oftmals darum, Neues abzulehnen und an Bewährtem festzuhalten. Das mag bisweilen ein akzeptable Haltung sein; bei eher risikoarmen Entscheidungen wie städtischen Wahrzeichen aber führt der ewige Blick zurück erst zu Stillstand und dann zu Rückschritt.

Ob Bonsai-Zar Putin, der Neo-Osmane Erdogan, ob der vermeintliche Arbeiterführer Trump, die Steinzeit-Krieger des IS oder die AfD: Sie alle sind vereint im Narrativ eines vermeintlich großartigen Gestern. Nostalgie ist die Vision der Reaktionäre, die fest an das Trugbild glauben, ein märchenhaftes „Früher“ ließe sich durch Rückwärtslaufen einholen, einen Zustand, als angeblich alles besser, ordentlicher, gesitteter zuging: Früher war der Wald grüner, das Bier kälter, die Zeitung besser. In Berlin äußert sich das Verehren der Vergangenheit als Preußenfimmel, der fragwürdigen Annahme, dass es den Menschen besser geht, wenn Könige und Militärs das Sagen haben.

Die Wippe beweist endlich einmal Mut zum Risiko

Erster Denkfehler: Nostalgie hat keine Haltepunkt, „Früher“ war einst Gegenwart und verwandelt sich insofern in ein „Noch-Früher“ , was uns stracks zurück bis in die Steinzeithöhle führt. Zweiter Denkfehler: Wäre eine Schule sanierter, eine Straße schlaglochfreier, gäbe es die Einheitswippe nicht? Womöglich stimmt das Gegenteil: Eine neue Touristenattraktion lockt langfristig mehr Besucher in die Stadt, bringt mehr Steuergeld, und damit öffentliche Investitionen.

Ob die Wippe ein künstlerischer Gewinn ist, bleibt Geschmackssache, ebenso wie die etwas sehr naheliegende Symbolik, dass sich Bürger gemeinsam auf eine Seite bewegen müssen, damit die Wippe wippt. „Bürgerbewegung“ – na gut. Was das neue Denkmal ausmacht, ist weniger sein ästhetischer Gehalt, sondern die Symbolkraft: Da wird was Neues durchaus Kontroverses probiert, auch auf die Gefahr hin, dass das Ding scheitert. Gut so. Allenthalben wird Deutschlands mangelnde Fehlerkultur beklagt, die beschränkte Risikofreude, die Angst, was falsch zu machen.

Die Einheitswippe, zehn Jahre durch alle Parteien und Schlaubergergremien leidenschaftlich debattiert, ist beileibe kein Eingriff ins Stadtbild wie der Eiffelturm und dennoch ein kraftvolles Zeichen für Aufbruch, für Neues, für Ungewisses und, ja, auch für eine Portion Irrsinn. Berlin eben. Man muss schon deswegen für die Wippe sein, weil die Falschen dagegen sind, die Bremser, die so gern zurückblicken, weil da keine böse Gegenwart lauert, sondern ein eingebildetes Fantasialand namens Früher.

Zum Schluss eine begrenzt gewagte Prognose: Die Wippe wird nicht, wie geplant, 2019 fertig, sondern frühestens 2022. Die Kosten explodieren selbstverständlich, so wie immer. Vermutlich gibt es technische Probleme mit dem Wippmechanismus. Und nach spätestens sechs Monate jubelt die ganze Stadt über das verrückte neue Ding, wo sich Tag und Nacht Zehntausende treffen, Fotos machen, Wippe wippen. Und alle werden es schon immer gewusst haben.

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