Berlin. Es ist wieder soweit: Am Donnerstag (16. Februar) startet die Berlinale (bis zum 26. Februar). Es ist die 73. Ausgabe des Filmfestivals. Jurypräsidentin ist in diesem Jahr die Schauspielerin Kristen Stewart (32). Der Titel des Eröffnungsfilms lautet "She came to Me". Regie führte die US-Amerikanerin Rebecca Miller. Besonderer Höhepunkt zu Beginn: Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj soll per Video zugeschaltet werden.
2020 feierte die Berlinale ihren 70. Geburtstag. Unter schwierigen Voraussetzungen. Denn kurz vor Beginn des Filmfestivals stellte sich heraus, dass Alfred Bauer, der erste Leiter des Festivals, seine Nazi-Vergangenheit geschönt und verschwiegen hatte.
Dennoch: Mehr als 70 Jahre bewegte und bewegende Festival-Geschichte haben sich mittlerweile angesammelt. Mit Skandalen und der immer wiederkehrenden Frage: Ist das Festival eine ernstzunehmende Konkurrenz zu den Veranstaltungen in Cannes und Venedig? Ein Streifzug.
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Die Berlinale, ein Kind des kalten Krieges
Dass nach dem Muster der großen Filmfestspiele in Venedig (seit 1932) und Cannes (seit 1946) ein weiteres Festival in Europa hinzukam, ging vor allem auf zwei Initiativen zurück. Die Westsektoren der Stadt wollten nach der Berlin-Blockade 1948/49 ein „Schaufenster der freien Welt“ bieten. Die Berlinale war also ganz klar ein Kind des Kalten Krieges.
Die Idee trieb wesentlich der Amerikaner Oscar Martay voran, der damalige Filmoffizier beim US-Hochkommissar. Berliner Filmproduzenten wiederum hatten nach der Blockade Angst um den Wirtschaftsstandort und wollten ihn mit einer repräsentativen Kulturveranstaltung aufwerten.
Zur Premiere 1951 spielten die Berliner Philharmoniker
Zeitgleich hatte Alfred Bauer (von 1951 bis 1976 Leiter der Berlinale), der nach dem Krieg Filmsachverständiger der britischen Militärregierung war und gerade sein Standardwerk „Deutscher Spielfilm-Almanach 1929-1950“ herausgegeben hatte, dem Regierenden Bürgermeister Ernst Reuter eine Denkschrift über die Gründung eines Filminstituts in Berlin überreicht, die auch Gedanken über ein Filmfestival enthielt.
Eigentlich war bereits Oswald Camman, der Geschäftsführer der Spitzenorganisation der Berliner Filmwirtschaft, zum Leiter des Festivals ernannt worden. Warum er zurücktrat und so Bauer zum Zuge kam, wird nun einer der Punkte sein, die es aufzuarbeiten gilt.
Als die ersten Filmfestspiele sechs Jahre nach Kriegsende, am 6. Juni 1951, eröffnet wurden, spielten die Berliner Philharmoniker Carl Maria von Weber. Ernst Reuter hielt eine mitreißende Rede. Gezeigt wurde ein elf Jahre alter Film, Alfred Hitchcocks „Rebecca“, der aber noch nie in Deutschland gelaufen war.
Hauptdarstellerin Joan Fontaine kam eigens aus Hollywood; auch alles, was im deutschen Kino Rang und Namen hat, drängte in den Titania Palast, den ersten Austragungsort der Berlinale. „Steglitz stand kopf. D.h. eigentlich stand es Schlange. Es stand Mauer“, schrieb der Berliner „Telegraf“: „Die Polizei riegelte ganze Straßenzüge ab, als lägen hochentzündliche Minen in der Gegend. Das Publikum kam auf seine Kosten.“
Kabarettistin Tatja Sais prägte den Begriff Berlinale
Gleich zu Beginn prägte die Kabarettistin Tatja Sais dabei einen Begriff, den die Berliner sofort übernahmen: Berlinale. Das Festival hörte das anfangs nicht gern, wollte man sich doch gerade von der Film-Biennale in Venedig unterscheiden. Alfred Bauer empfand den Beinamen gar als Sakrileg.
Bauer musste anfangs jedes Jahr um sein Budget kämpfen. Erst ab 1953 wurde das Festival zur festen Einrichtung. Und erst ab 1956, als dem Festival offiziell der A-Status verliehen wurde, gab es eine Jury. Zuvor hatte das Publikum über die Filme abgestimmt. Eine besondere Attraktion waren dabei Großveranstaltungen am Berliner Funkturm und in der Waldbühne.
Und Vorführungen in Randkinos, wo vor allem Ost-Berliner Filme sehen konnten, die im Ost-Sektor verboten waren. Berlinale im Kiez gab es also schon damals. Das Filmfestival unterschied sich von anderen nicht nur dadurch, dass es das einzige in einer Großstadt war, sondern auch, dass es sich explizit ans Publikum wandte.
Berlinale war ein Instrument des Kalten Krieges
Von der ersten Stunde an war die Berlinale aber auch dezidiert politisch: ein Instrument des Kalten Krieges. Deshalb waren in den ersten Jahren besonders viele US-Produktionen zu sehen. Ein Zeichen, dass die USA die „Frontstadt“ in schweren Zeiten nicht allein ließ. Die Hollywoodstudios schickten all ihre Stars in den Titania Palast und ab 1957 in den Zoo Palast, das neue Festivalzentrum, um für die freie Welt, aber auch für die eigenen Produkte zu werben.
Stars über Stars reisten an, auch wenn sie manchmal recht mulmig vorm Brandenburger Tor standen. Aus Angst, die Stadt könnte abgeriegelt werden. Amerika stand West-Berlin auch bei, als 1961, nur wenige Wochen nach der 11. Berlinale, die Mauer gebaut wurde. Und das Bangen größer wurde.
Es war aber auch die Berlinale und nicht Cannes oder Venedig, wo die französische Nouvelle Vague oder ein Michelangelo Antonioni erste Erfolge feierten. Das neue, junge Kino, es strahlte von hier aus in die Welt. Im Tauwetter der 70er-Jahre wurden auch erste Filme aus der Sowjetunion gezeigt, die bis dahin alle Einladungen ausgeschlagen hatte, weil sie den Status von West-Berlin als Teil der Bundesrepublik nicht anerkannte. Selbst das Unruhejahr 1968 überstand die Berlinale ohne Schaden, während Cannes nach Tumulten abgebrochen wurde.
Ein Skandal bringt die Berlinale zum Stillstand
Seinen ersten handfesten Skandal erlebte das Festival ausgerechnet 1970. In seinem Film „O.K.“ übertrug Michael Verhoeven einen Vergewaltigungsfall aus dem Vietnamkrieg in den Bayerischen Wald. Jurypräsident George Stevens fühlte sich als Amerikaner beleidigt und wollte den Film aus dem Wettbewerb werfen lassen. Ein klarer Verstoß gegen die Festivalstatuten.
Daraufhin zogen Regisseure aus Solidarität ihre Filme zurück, der Zoo Palast wurde besetzt, die Jury löste sich auf, Preise wurden, einmalig in der Festivalgeschichte, nicht vergeben. Als Konsequenz wurde das Internationale Forum des Jungen Films gegründet, quasi als Gegen-Festival im eigenen Haus, das dieses Jahr ergo sein 50. Jubiläum feiert. Bauer hatte in der Affäre keine gute Figur gemacht, war seitdem angezählt. Und musste 1976, als er das Rentenalter erreichte, seinen Posten abgeben. Nach einem Vierteljahrhundert. Keiner hat die Berlinale länger geleitet.
Donner verlegte die Berlinale vom Sommer in den Winter
Um seine Nachfolge zu bestimmen, wurde, mit Filmkritiker Wolf Donner als Vorsitzendem, ein Komitee gebildet. Weil es sich auf keinen Kandidaten einigen konnte, wurde Donner selbst zum Nachfolger. Eine Analogie zur Kosslick-Nachfolge, als auch Mariette Rissenbeek in einem Ausschuss saß, der den neuen Geschäftsführer bestimmen sollte, und am Ende selbst die Position innehatte.
Donner brachte es nur auf drei Jahre. Und gern wird ihm vorgeworfen, seine einzige „Leistung“ sei gewesen, das Festival vom Sommer in den eisigen Winter verlegt zu haben. Tatsächlich aber hat Donner das Festival völlig umgekrempelt und von altem Muff befreit. Er zielte auf ein politisch engagiertes Festival.
„The Deer Hunter – Die durch die Hölle gehen“ löste 1979 Berlinale-Skandal aus
Die Terminverlegung war erforderlich, weil die Berlinale zwischen Cannes und Venedig kaum noch relevante Filme ergatterte. Donner führte auch neue Sparten ein wie die Sektion Deutsches Kino oder das Kinderfilmfest. Vor allem aber initiierte er einen Markt für die Branche, der anfangs noch „Film Fair“ hieß.
Fortan sollten Filmemacher in Berlin nicht nur neue Werke präsentieren, sondern auch über Vertrieb und Verkauf verhandeln. In jenen Tagen wurde die Berlinale zum Arbeitsfestival, und längst ist der heutige Europäische Filmmarkt ihr größter Motor.
Auch Donners kurze Ära wurde von einem Skandal erschüttert. Diesmal war ein amerikanischer Vietnamfilm der Stein des Anstoßes: Als „The Deer Hunter – Die durch die Hölle gehen“ 1979 im Wettbewerb lief, sah die sowjetische Delegation darin eine Beleidigung des vietnamesischen Volkes und zog unter Protest all ihre Filme zurück.
Die Bruderstaaten des Warschauer Paktes zogen nach, auch zwei Juroren reisten ab. Das Festival lief zwar weiter. Aber der Flurschaden war verheerend. Und Donner, der kürzeste Leiter der Berlinale-Annalen, warf das Handtuch.
Amerikaner gingen statt zur Berlinale nach Cannes und Venedig
Die Nachfolge trat Moritz de Hadeln an. Auch hier wiederholt sich die Geschichte. Wie später Carlo Chatrian hat de Hadeln zuvor das Festival von Locarno geleitet. Und er sollte lange unter dem „Deer Hunter“-Eklat leiden. Denn ausgerechnet die Amerikaner, die bis dahin das Festival so tatkräftig unterstützt hatten, hielten ihre Filme fortan zurück und gingen lieber nach Cannes und Venedig, wo mehr Wert auf Glamour gelegt wurde. Während die Berlinale, wie Regisseurin Helke Sander-Brahms 1982 als Jurymitglied klagte, „auf dem Weg zu einem Pullover-Festival“ war.
De Hadeln ging in die Geschichte ein als der Mann, der erstmals auf einem Filmfestival einen Computer die Logistik und Programmierung errechnen ließ. Zu einer Zeit, als selbst Faxgeräte noch fast unbekannt waren, trimmte er die Berlinale zu einer effizienten Festivalmaschine. De Hadeln stoppte den Star-Schwund mit neuen Preisen wie der Berlinale-Kamera und dem Goldenen Ehrenbären.
Er hat die bisherige „Info-Schau“ zum Panorama ausgebaut, wo große Filme auch ohne Konkurrenzdruck des Wettbewerbs gezeigt werden konnten. In seiner Amtszeit wurde der heimliche Name Berlinale endlich auch offiziell.
Seine Hauptaufgabe sah der Kosmopolit aber darin, den kulturellen Dialog zwischen den Systemen zu fördern. In der Zeit von Glasnost hievte er 1987 gleich drei sowjetische Beiträge in den Wettbewerb. Er öffnete das Festival noch weiter gen Osten und entdeckte, seine größte Pionierleistung, den chinesischen Film fürs Weltkino, was sich 1988 im Goldenen Bär für für Zhang Yimous „Das rote Kornfeld“ niederschlug.
Berlinale plötzlich ein Film-Festival für beide Hälften der Stadt
Eine grundlegende Zäsur des Festivals setzte dann der Mauerfall 1989. Schon davor gab es Überlegungen, wie man die Berlinale auf Ost-Berlin erweitern konnte. Nun erledigte sich das von selbst. Im Februar 1990, nur vier Monate nach dem Fall der Mauer, wurden wie selbst-verständlich Filme in Ost und West gezeigt.
Und Hollywoodstars wie Julia Roberts und Sally Field posierten auf der Mauer mit DDR-Grenzsoldaten. Am Ende gingen gleich zwei Silberbären an deutsche Filme: an Heiner Carows „Coming-Out“ aus der Noch-DDR und Michael Verhoevens „Das schreckliche Mädchen“ aus der BRD. Die Wiedervereinigung – auf der Berlinale wurde sie schon vorweggenommen.
Umzug just zur 50. Berlinale
Das Zusammenwachsen der einst geteilten Stadt führte zur größten Veränderung, die das Festival je erlebt hat: die Verlegung an den Potsdamer Platz, in die neue Mitte, an die Schnittstelle von Ost und West. Den Umzug ins neue Jahrtausend, just zur 50. Berlinale 2000, durfte de Hadeln noch organisieren. Doch mit der neuen Spielstätte wollte man auch eine neue Vision. Ziemlich uncharmant wurde de Hadeln geschasst. Der gebürtige Brite war sicher kein einfacher Chef, es gab unter seiner Ägide viel Unmut, gerade was die Beziehung zum deutschen Film anging. Aber wie er öffentlich diskreditiert wurde, war beispiel- und würdelos.
Berlinale – Neuerfindung als Stadtfestival
18 Jahre (2001 bis 2019) lang hat dann Dieter Kosslick das Festival geleitet. Und noch kühner ausgebaut. Er hat mehr denn je den einfachen Kinogänger miteinbezogen, hat die alte Idee vom Kiez-Kino reaktiviert und die Berlinale zum größten Publikumsfestival der Welt erweitert. Er hat die Stones und Madonna aufs Festival gebracht und den frisch restaurierten Stummfilmklassiker „Metropolis“ bei Eiseskälte am Brandenburger Tor gezeigt.
Vor allem aber setzte Kosslick, einst Filmförderchef in Hamburg und Nordrhein-Westfalen, Förderung mit anderen Mitteln fort. Dem hiesigen Filmnachwuchs richtete er die neue Sparte Perspektive Deutsches Kino ein, den internationalen Nachwuchs lud er zum Talent Campus. Mit dem Coproduction Market und dem World Cinema Fund (WCF) hat sich die Berlinale zudem eigenen Regie-Nachwuchs erzogen.
Unwürdige Kritik an Berlinale-Chef Dieter Kosslick
Eine von Kosslicks wichtigsten Verdiensten war es, den deutschen Film, der mit der Berlinale lange auf Kriegsfuß stand, zurückzugewinnen. In seinem ersten Programm 2002 liefen gleich vier deutsche Beiträge im Wettbewerb, mit Tom Tykwers „Heaven“ als Eröffnungsfilm. 2004 ging der Goldene Bär an Fatih Akins „Gegen die Wand“, und zwei Jahre später gab es gleich drei Silberne Bären für deutsche Schauspieler. Das hatte Signalwirkung.
Kosslick hat im Lauf der Jahre immer mehr Künste in das Festival miteinbezogen und die Berlinale so in die ganze Stadt getragen. Er hat das Filmfestival zu einem Stadtfest erweitert, sagen die, die es gut mit ihm meinen. Die Berlinale wurde zur Krake, attestieren die Gegner. Zu unübersichtlich wurde das Programm und zu beliebig.
So unbestritten Kosslicks Neuerungen im Festivalgefüge waren und so sehr er als Entertainer auf dem Roten Teppich glänzte, mit der Auswahl seiner Filme hatte er oft kein glückliches Händchen. Filme mussten nicht immer gut sein, gut gemeint reichte, wenn sie nur brisante Konflikte behandelten und Diskussionsthemen setzten.
Monika Grütters verlängerte Vertrag von Dieter Kosslick nicht
Dass ihn ausgerechnet deutsche Filmemacher, die er nachhaltig gefördert hat, in einem Offenen Brief vor aller Welt diskreditierten – bei keinem Festival hat es so was je gegeben –, hat ihn schwer getroffen. Dass Kulturstaatsministiern Monika Grütters (CDU) daraufhin seinen Vertrag nicht verlängerte, obwohl sie noch keinen Nachfolger hatte, schmerzte nicht weniger. Das 70er-Jubiläum hätte Kosslick gern noch mitgestaltet.
Aber auch hier wiederholt sich Geschichte. Wie man aus seinem Amt gejagt wird, darüber könnte er sich mit seinem Amtsvorgänger austauschen. Dass die Kulturstaatsministerin Kosslick zum Ende aber noch eine Patenschaft für den ältesten Braunbären Europas verlieh und ihn damit selbst zum Problembären abstempelte, ist an Boshaftigkeit nicht zu übertreffen.
Die neue Leitung Chatrian und Rissenbeek trat 2020 ein schweres Erbe an. Nicht nur wegen Alfred Bauer, dem verwaisten Potsdamer Platz und anderen erschwerten Bedingungen. Chatrian musste beweisen, dass er nicht nur Locarno, sondern auch ein größeres Festival kann. Rissenbeek musste sich aus dem Ruch befreien, sie habe sich ihr Amt selbst zugeschanzt.
Berlinale muss beweisen, dass sie Konkurrenz zu Cannes und Venedig ist
Und beide mussten nicht nur die befriedigen, die nach Stars verlangen, sondern auch die Kosslick-Kritiker, die bessere Filme forderten. Überhaupt musste die Berlinale beweisen, ob sie in ihrem 70. Jahr noch ein A-Festival und eine ernstzunehmende Konkurrenz zu Cannes und Venedig sein konnte.
Für ein Jubiläum und eine Rückschau blieb dabei wirklich kaum Zeit. Als hätte sie das geahnt, hat die Deutsche Kinemathek schon vor anderthalb Jahren die Ausstellung „Zwischen den Filmen“ gezeigt: eine Fotogeschichte der Berlinale unter Schlaglichtern wie Posen, Partys, Preise und Mode. Leider ist die Ausstellung längst ausgelaufen. Der Katalog indes ist noch zu haben – und ein hübscher Ersatz für eine Rückschau. Die plant die Berlinale erst 2025, zum 75.