Heinrich Zille interessiert heute noch die Kunsthistoriker. Pay Matthis Karstens hat eine Biografie über den Künstler herausgegeben.
Das war sein „Milljöh“ – Berlins Mitte am Anfang des letzten Jahrhunderts. Heinrich Zille (1858–1929) fand seine Motive im Scheunenviertel und im alten Zentrum von Berlin, genauer in den Hinterhöfen, Seitengassen und Kaschemmen. Der 26 Jahre alte Kunsthistoriker Pay Matthis Karstens hat dem beliebten Künstler, der vom Volk zum „Pinselheinrich“ reduziert wurde, jetzt als Herausgeber ein Buch gewidmet: „Der unbekannte Zille“ heißt es. Dabei hat Karstens eine Biografie ans Licht der Öffentlichkeit geholt, die bereits Anfang der 30er-Jahre entstand. „Sie liest sich trotzdem weder altbacken noch gefühlsduselig. Der Autor hatte eine tolle Perspektive auf Zille, mit einem kritischen Blick und einem wunderbaren Schreibstil“, sagt Karstens.
Die Biografie stammt von dem Schriftsteller Erich Knauf (1895–1944), der beruflich mit Erich Kästner und dem Karikaturisten Erich Ohser (bekannt durch die Bildserie „Vater und Sohn“) verbunden war. Das facettenreiche Porträt über Heinrich Zille hatte seine in Tempelhof wohnende Witwe Erna Knauf jahrzehntelang gehütet. Trotz der Qualität war es ihr nicht gelungen, einen Verlag dafür zu finden. Schließlich vertraute sie den Nachlass ihres Mannes dem Schriftsteller Wolfgang Eckert an. Das war 1987. Schon die Entstehungsgeschichte des jetzigen Buchs, das vom Vergangenheits Verlag herausgegeben worden ist, liest sich spannend. Auch weil das Berlin zur Zeit Zilles wie ein buntes Kaleidoskop aufgefächert wird – volksnah wie Zille, dennoch immer mit kritischem Blick. „Knaufs Sprache ist zudem wunderbar pointiert, außerdem mit eigenwilligen und treffenden Bildern unterlegt, alles erstaunlich modern“, lobt Karstens die erst nach rund 80 Jahren jetzt veröffentlichte Biografie.
Ein verblasster Schreibmaschinen-Durchschlag bildet die Basis
Eckert fand neben Prozessakten – der regimekritische Knauf war von den Nationalsozialisten 1944 hingerichtet worden – auch Fotos, Briefe, Gedichten eben auch das unveröffentlichte Manuskript über Zille. Es sollte noch fast 30 Jahre dauern, bis der verblasste Schreibmaschinen-Durchschlag als Biografie-Text in dem jetzigen Buch veröffentlicht werden konnte. Karstens hat den Text bearbeitet, viele Worte waren unleserlich und mussten ergänzt werden. Es gab auch Namensverwechslungen, die er korrigierte. Seine Kommentierung des Werkes rundet das Buch ab.
Pay Matthis Karstens, der 2009 nach Berlin zog, um an der Humboldt-Universität Kunstgeschichte zu studieren, interessiert sich schon länger für Zille. „Im Studium kam er zwar nicht vor. Seine Vereinnahmung zu Unterhaltungszwecken ist Zille wohl zum Verhängnis geworden, als ernsthafter Künstler in die Geschichte einzugehen. Sein Werk und auch seine Biografie sind denn dennoch hochspannend“, findet er. Karstens kuratierte 2013 die Ausstellung „Zensur und Willkür“ in der Villa Oppenheim, wo es um das Werk Zilles im Nationalsozialismus ging. Außerdem forschte er über Zilles Fotografien 2013 für die Berlinische Galerie.
Sogar eine Zigarettenmarke und Lebkuchen hießen Zille
Die Einschätzung von Knauf über Zilles künstlerische Stärken und Schwächen hält Karstens noch immer für gültig. Auch seine Kritik an der Selbstvermarktung Heinrich Zilles in dessen letzten Lebensjahren: „Als ,Vater Zille’ wurde er zum Maskottchen von Klamauk und Kitsch. Dadurch wurde er nicht mehr als herausragender Künstler mit ernsthaftem Anliegen angesehen“, sagt Karstens. Beispielsweise habe er seinen Namen für die ,Hofbälle bei Zille’ gegeben, eine Unterhaltung der höheren Schichten, bei der sich Menschen als „Zille-Typen“ kostümierten. In dieser „Milljöh“-Kulisse sei Zille als Gastgeber aufgetreten. „Unter Mitwirkung des Zeichners wurden seine Beobachtungen sozialer Brennpunkte und gesellschaftspolitischer Probleme zum romantisch-nostalgischen Abziehbild verkehrt – und zur einträglichen Geldquelle“, schreibt Karstens in seinem kritischen Nachwort. Sogar eine nach Zille benannte Zigarettenmarke und auch Lebkuchen habe es gegeben.
In hohem Alter sei Zille durchaus bereit gewesen, seine Bilder dem Publikumsgeschmack inhaltlich und ästhetisch immer weiter anzupassen. Seine Motive seien zunehmend zu Unterhaltungszwecken eingesetzt worden. Erich Knauf, und das mache die Biografie so zeitlos und spannend, habe sich Zille kritisch und differenziert genähert. Und dabei eben auch die Widersprüche und Schattenseiten beleuchtet, wodurch sich diese biografische Annäherung sehr deutlich von anderen Buchprojekten unterscheide.
40 Jahre war Charlottenburg Zilles Heimat
Karstens klärt in seinem Nachwort aber auch darüber auf, dass Heinrich Zille nicht selbst in der Welt seiner „Modelle“ zu Hause war, wie das Knauf noch geschrieben hatte. Der Zeichner lebte mit seiner Familie außerhalb von Berlin, nämlich in der damals sehr wohlhabenden Nachbarstadt Charlottenburg, genauer gesagt an der Sophie-Charlotten-Straße 88, wo heute noch eine Tafel an ihn erinnert. Die Dreizimmer-Wohnung im vierten Stock hatten Heinrich Zille und seine Frau Hulda Frieske, eine Lehrerstochter aus Fürstenwalde, 1892 bezogen. Dort wohnte der Künstler fast 40 Jahre, bis zu seinem Tod 1929. Um die Motive im „Milljöh“ zu finden, ging Zille auf Entdeckungsfahrt nach Berlin, ins Nikolaiviertel, in die Gegend rund um den Alexanderplatz.
Für den Kunsthistoriker Pay Matthis Karstens, der ebenfalls in Charlottenburg wohnt, wird das Buch nicht die letzte Beschäftigung mit Heinrich Zille gewesen sein. Er ist der Ansicht, dass es noch viel über das aus Dresden stammende Berliner Original zu erforschen gibt. Aktuell interessieren ihn vor allem zwei Bereiche: Zilles künstlerisches und gesellschaftliches Netzwerk. „Er kannte viele Künstler und Kunstschaffende seiner Zeit, war Mitglied der Akademie der Künste, mit Käthe Kollwitz und Max Liebermann befreundet. Darüber ist wenig bekannt, darüber werde ich forschen“, kündigte Karstens an. Auch eine Reihe von Glasfenstern beschäftigt ihn gerade. „Sie sind nach Motiven Heinrich Zilles, und möglicherweise unter seiner Mitwirkung, entstanden. Bespielsweise für das Kinderzimmer eines mit Zille befreundeten Architekten. Darüber möchte ich mehr wissen.“
Die Biografie „Der unbekannte Zille“ von Erich Knauf, Vergangenheitsverlag 2015, kostet 18,90 Euro.