Der Regisseur hat den radikalsten Film seit Jahren gedreht. Und zwar auf den Straßen von Berlin. Er wollte endlich mal was Mutiges machen. Und hat gleichzeitig dem „Tatort“ gekündigt.

Wir machen das jetzt mal wie beim Film. Wir springen erst ans Ende und erzählen dann von vorn. Gegen Ende nämlich sagt Sebastian Schipper – da sitzen wir schon im Café und er kriegt endlich den Tee, auf den er sich die ganze Zeit gefreut hat– am Ende also sagt der Regisseur, er wollte einfach mal radikal sein. „Wahrscheinlich aus Verzweiflung darüber, dass man nicht immer so weitermachen kann. Aus Frustration, dass alles sich immer so ähnlich anfühlt und auch so aussieht.“

Er hat lange als Regisseur, Drehbuchautor und Schauspieler gearbeitet. Und darunter gelitten, dass Filme sich nichts trauen. Einmal wollte er sich selbst gehören, wollte etwas wagen, wonach er sich immer gesehnt hat. Das war dann sein Berlin-Film „Victoria“. Der ist vor drei Monaten auf der Berlinale ziemlich übersehen worden. Geht jetzt aber, beim Deutschen Filmpreis, mit sieben Nominierungen als großer Favorit ins Rennen. Die Lolas werden am 19. Juni verliehen, eine Woche nach dem Kinostart von „Victoria“. Eine bessere Werbung kann es nicht geben.

144 Minuten ganz ohne Schnitt

Schnitt. Jetzt sind wir am Anfang. Und stehen vor einem Loch. Charlottenstr. 1 in Kreuzberg, vor der „Dermo-Kosmetik Akademie Pierre Fabre“. Eine Treppe führt vom Trottoir nach unten. Die Tür ist aber abgesperrt, und da unten ist nichts. Ein stillgelegter Transistorenkeller, erklärt Schipper grinsend. Hier haben sie für seinen Film einen Techno-Club errichtet. Alles Film, alles Kulisse. Aber es wirkte so überzeugend, dass ein paar junge dänische Touristen, wohl vom Hostel gegenüber, rein wollten. Was das Drehen ziemlich kompliziert gemacht hätte. Denn das ist der eigentliche Clou von Schippers Werk: Er hat den Film ohne einen einzigen Schnitt, in einer langen Einstellung gedreht.

Das ist so ungewöhnlich, dass es im Deutschen kein Wort dafür gibt. Im Englischen heißt das One Take oder auch: One Shot. Dort kennt man das aber auch eher aus dem Musikvideo-Bereich. Der One Take im Film ist ein unerreichter Gral. Hitchcock hat das mal versucht, 1948 in „Rope – Cocktail für eine Leiche“. Aber damals kam man noch an technische Grenzen. War eine Filmspule zu Ende belichtet, musste man sie auswechseln. Der Master of Suspense trickste dann mit „heimlichen Schnitten“, fuhr am Ende einer Rolle auf einen dunklen Gegenstand und fing dort mit der neuen Rolle wieder an. Fällt nicht auf. Der Oscar-Sieger 2015, „Birdman“, hat das gerade wieder zur Perfektion getrieben. Aber wirklich alles am Stück zu drehen, das geht überhaupt erst, seit es digitale Kameras gibt.

Wechselbad der Gefühle

Und das hat bislang erst ein Film geschafft. „Russian Ark“ wurde 2002 in der Eremitage von St. Petersburg gedreht. Eine einzige Kamerafahrt durch das ganze Schloss, von Raum zu Raum. Der 100-Minüter aber spielte an einem geschlossenen Ort, wo alles bis ins Kleinste vorbereitet werden konnte. Schippers „Victoria“ sticht das gleich doppelt aus. Sein Film ist 144 Minuten lang und damit der längste Take der Filmgeschichte. Und er spielt auf der Straße, in einem ganzen Viertel. Hier lernt in einer langen Nacht eine junge Spanierin vier Berliner kennen, läuft mit ihnen herum, quatscht viel, verliebt sich in einen. Bis das Quintett von zwielichtigen Figuren erpresst wird, eine Bank zu überfallen. Was natürlich schief geht. Und zu einer wilden Schießerei mit der Polizei führt. Eine Tour de Force. Eine logistische Meisterleistung.

Was hätte nicht alles schief gehen können beim Dreh. Der Kameramann hätte aus Versehen den Regisseur ins Visier nehmen, Schaulustige wie die Dänen hätten ins Bild laufen und vor allem: die Schauspieler hätten patzen können. Unglaublich, was vor allem Laia Costa, die großartige Entdeckung aus Spanien, und das Berliner Urgestein Frederick Lau alles mimen, von Schmetterlingen im Bauch über tiefe Verzweiflung bis zu Todesangst. Ein Wechselbad der Gefühle. Bei „Victoria“ muss man zwar auch manche Länge in Kauf nehmen, aber dafür wird man Zeuge eines ganz anderen, rohen, authentischen, direkten Kinos. Radikal. Frisch. Und berlinerisch.

Welche Anspannung, welche Adrenalinausschüttung

Jetzt geht Sebastian Schipper diese Orte noch einmal mit uns ab. Vom Kosmetiksalon, wo nicht nur die Bar eingerichtet, sondern auch das Team stationiert war. An den Kiosk in der Friedrichstr. 33, wo sie miteinander anbandeln. Zu der Bank in der Zimmerstraße, wo der Überfall stattfindet. An die Wohnanlage in der Puttkamer Straße, wo die Polizei auffährt. Und, einen knappen Kilometer weiter, das Westin Grand Hotel, in das sich das Pärchen flüchtet. Schon diese Unzahl an Kulissen lässt uns staunen. Wären wir die Route chronologisch abgelaufen, wie es im Film vorkommt, wäre das ein einziges Zickzack gewesen.

Und das alles hat ohne Schnitzer geklappt? Was für eine Konzentration, was für eine Anspannung und Adrenalinausschüttung muss das gewesen sein. Drei Nächte hatten sie. Für eine vierte hätte das Geld nicht gereicht. Dreimal haben sie alles „durchgerockt“. Die Schauspieler wurden immer besser. Der Regisseur hat auch immer noch was in der Dramaturgie verändert. Der letzte Dreh war daher der beste.

Ein Spät- und Überzeugungsberliner

Und jetzt steht der Regisseur wieder hier, ein knappes Jahr nach dem Dreh. Und fühlt sich ganz seltsam, wie er zugibt. Einerseits seien sie damals „in so einer Blase“ gewesen, dass sie die Umwelt gar nicht richtig mitbekommen hätten. Andererseits „empfinde ich das so, als ob ich die Orte hier schon viel länger kenne. Als ob hier eine Tante von mir wohnen würde, als ob ich das Viertel hier schon kenne, seit ich Kind war“. Tut er natürlich nicht. Schipper wohnt eigentlich in Mitte. Und ist überhaupt ein Spät-Berliner.

Nach Berlin wollte er eigentlich nie. Und jetzt hat er mit „Victoria“ den Berlin-Film des Jahres, wenn nicht des Jahrzehnts gedreht. Das ist nicht ohne Ironie. Schipper, 1968 in Hannover geboren, hat in München studiert. Wollte aber immer nach Hamburg. Das war so ein Sehnsuchtsort. Schließlich zog er dorthin und hat mit „Absolute Giganten“ den genuinen Hamburg-Film gedreht. Es war sein Regiedebüt. Das floppte zwar an den Kassen, brachte ihm aber gleich einen Deutschen Filmpreis ein. Und auf dem aufkommenden DVD-Markt wurde der Film zum Langzeit-Hit. Nur Hamburg selbst löste nicht das ein, was er sich von der Stadt versprochen hatte. So zog er dann doch in die Hauptstadt.

Das Berlinischste sind die Berliner

Auch das ist ein Unikum: Filmische Hymnen auf gleich zwei Großstädte zu kreieren, das hat noch keiner geschafft. Absolut gigantisch. Lange wurde er immer nur als „der Regisseur von ‚Absolute Giganten‘“ angesprochen, obwohl der Film ja noch aus dem alten Jahrtausend stammt. Künftig wird er wohl „der Regisseur von ‚Victoria‘“ sein. Dabei spielt der Film eben gerade nicht an touristischen, zigmal ausverfilmten Ecken, sondern an anonymen Un-Orten. „Ich bin hierhergezogen wegen der Freunde, die ich in Berlin habe. Das ist es, wofür alle Berlin lieben: wegen der Leute. Vielleicht ist das das extrem Berlinhafte an meinem Film: dass es um die Leute geht, die du hier triffst. Die Jungs sind Berlin.“

Am Anfang unseres Spaziergangs, in den Wohnblocks in der Puttkamerstraße, hat unser Fotograf den Herrn Regisseur überredet, für das Bild auf einen Betonblock zu klettern. Dort saß er dann tapfer, auch wenn er sich ein wenig genierte. Aber auch noch drauf zu stehen, so in Herrenpose, das wollte er nicht. Das passt nicht zu ihm. Schipper ist eher ein Bescheidener. Und erzählt uns dann später, auf dem Weg zum Luxushotel von den vielen Selbstzweifeln, die er immer wieder hatte. Dass er jetzt 47 ist und „in Pi mal Daumen 20 Jahren nur vier Filme gedreht“ hat. Anfangs war er unglaublich stolz und selbstsicher mit seinem One-Taker.

Kein Festival wollte den Film

Aber dann hat er ihn auf mehreren Festivals eingereicht. Und keines wollte. Venedig – lehnte ab. Toronto – lehnte ab. Als auch noch Sundance „Nein“ sagte, wusste er nicht mehr, ob er nicht doch komplett falsch lag. „Aber dann hat Dieter angerufen“, schwärmt Schipper und meint Dieter Kosslick, den Chef der Berlinale, der den Film in seinen Wettbewerb hob. „Ich war gerade auf der Autobahn, musste an einem Rastplatz anhalten und ins Leere starren. Wenn man so will, erholt sich mein emotionales System immer noch von diesem Anruf.“

Ist es Ironie oder Zufall, dass wir gerade am Westin Grand angelangt sind? Solange es um den Nervenkitzel beim Dreh, die Absagen und Selbstzweifel ging, sind wir auf Nebenstraßen geschlendert. Jetzt, wo es um den Triumph geht, treten wir den Rückweg auf der mondänen Friedrichstraße an. Auf der Berlinale hat „Victoria“ zwar nur einen Bären für die beste Kameraarbeit bekommen, und selbst den musste er sich mit einem anderen Film ex aequo teilen. Gleichzeitig hat er den Leserpreis der „Berliner Morgenpost“ gewonnen. Ein Zeichen, dass der Film nicht nur experimentelle Feinkost ist, sondern auch beim breiten Publikum funktioniert. Noch auf dem Festival hat sich „Victoria“ dann in alle Länder verkauft, sogar in die USA, wo sie ganz verrückt nach ihm sind und ihn Mister „One Shot Wonder“ nennen.

„Unter-komplex“: Watschn gegen den „Tatort“

Und jetzt die Lola-Nominierungen. Schipper freut sich vor allem für all die anderen, die nominiert sind, die also wahrgenommen wurden für den Ritt, den sie da gewagt haben. Dass „Victoria“ auch als Bester Film und er selbst als Regisseur im Rennen ist, scheint er eher zu verdrängen. Darüber kann er sich vielleicht auch nur im stillen Kämmerlein freuen. Was ihn auch wieder ganz sympathisch macht.

Zuletzt sitzen wir im „Wilhelm & Medné Bio Bistro“ an der Friedrich-, Ecke Hedemannstraße. Da, wo sich das Filmpärchen nächtens verliebt und wo er jetzt vor seiner dampfenden Tasse Tee sitzt, den er dringend braucht, weil er den ganzen Morgen noch keinen getrunken hat. Da hebt er dann zu der Grundsatzrede an, dass man sich mehr trauen muss beim deutschen Film. Wie nebenbei rutscht ihm dabei heraus, dass er beim „Tatort“ gekündigt hat. Er hatte bei den Hamburger-Umland-Krimis mit Wotan Wilke Möhring und Petra Schmidt-Schaller die dritte Hauptrolle, hat aber nach der letzten Folge „Frohe Ostern, Falke“, die kollektiv verrissen wurde, wie Schmidt-Schaller hingeworfen. Und schimpft jetzt über das deutsche Fernsehen, wie „unter-komplex“ das sei. Hauptsache, die Quote stimmt. „Das Niveau, auf dem da gearbeitet wird, ist erschütternd. Wenn das Kinderentertainment wäre, um Kinder an schwierige Themen heranzuführen, wäre das okay. Aber das kann nicht wirklich das Niveau sein, mit dem Erwachsenen zur Hauptsendezeit tiefgründige, sozialpolitische Themen verhandelt werden.“

Er hat da wiederholt Radau gemacht, da waren viele genervt von ihm: Na klar, der Schipper weiß alles besser, der ist ja selber Filmemacher. Schipper hat den „Tatort“-Dreh eigentlich geliebt. Gibt auch unumwunden zu, dass er just an den Part kam, als er gerade völlig pleite war. Aber so wollte er nicht weitermachen.

Am Rande der Katastrophe arbeiten

Er schwärmt von seinen Vorbildern beim New Hollywood. Leute wie Francis Ford Coppola, der beim „Paten“ durchdrückte, dass ein damals unbekannter Al Pacino die Hauptrolle spielte und den der Produzent als „Zwerg“ beschimpfte. Niemand hätte je geahnt, dass das ein Klassiker werden könnte, jeden Abend hatten sie Angst, dass sie am nächsten Tag nicht weiterdrehen durften. Und dann nimmt dieser Coppola all das Geld und dreht damit „Apocalypse Now“ im Dschungel, ein 16-monatiger Trip, von dem auch keiner wusste, ob das was werden würde. „New Hollywood hat oft am Rand der Katastrophe gearbeitet. Und Meisterwerke hervorgebracht“, sagt Schipper. „Ich glaube, Filmkunst braucht den Abgrund, das totale Risiko.“ Er hat das mit „Victoria“ gewagt. Und hofft, dass andere nachziehen und mutiger werden. Die Lola-Nominierungen der Deutschen Filmakademie sind ein Zeichen, dass das bei der Branche ankommt.