Es gilt das ungeschriebene Gesetz im Berliner Senat, auf Offene Briefe nicht zu reagieren. Weil es eben keine echten Briefe, sondern verdeckte Pressemitteilungen sind. Theaterintendant Claus Peymann, 77, hat Anfang April einen solchen Brief an den Regierenden Bürgermeister und Kultursenator Michael Müller geschrieben. Er ist im typischen Peymann-Sound des abendländischen Untergangs verfasst: Zerstörer und Zwerge sind an der Macht und machen den Theaterbetrieb kaputt. Überhaupt nehme das alles „einen ziemlich katastrophalen Verlauf“. Und der Regierende ist mit seinem Nebenjob als Kultursenator eh überfordert: „Das kann Müller nicht nebenbei.“ Zumal sein Kulturstaatssekretär Tim Renner „die größte Fehlbesetzung des Jahrzehnts“ sei.
Ein beinharter Provokateur
Während Michael Müller sich in seiner Senatskanzlei seither in Schweigen hüllt und seinen Kulturstaatssekretär machen lässt, muss sich Tim Renner, 50, über den Frontalangriff wirklich geärgert haben. Er hat öffentlich reagiert. „Das ist ein älterer, trauriger Herr, der um sich schlägt“, sagte Renner auf Radioeins. Seine Argumention ist ein in Papier gewickeltes Messer. Der verdienstvolle Platzhirsch Peymann ist demnach nicht mehr lieb, weil er 2017 das Berliner Ensemble (BE) verlassen muss. Das kann jeder irgendwie verstehen. Über diese Reaktion muss sich ein beinharter Provokateur wie Peymann ärgern. Renner hätte der Weltöffentlichkeit mitteilen sollen, dass der abgehalfterte Theatermann das BE besser sofort verlasse, damit die gerontologische Abteilung noch eine Überlebenschance habe. Das ist zwar Unsinn, aber darüber hätte Peymann gelacht und sein Gegenüber als satisfaktionsfähig befunden. Theatralische Beleidigungen gehören zum Showkampf. Nur darf Renner als Politiker solche Dinge nicht sagen. Eigentlich schade.
„Kulturdiskussionen haben immer ihre guten Seiten“, sagt Renner stattdessen, „weil man auch seine eigenen Ansichten hinterfragen muss.“ Und dann fügt er zögernd hinzu: „Es bleiben aber auch Verletzungen zurück“. Renner macht gerade Skiurlaub in Schweden und wirkt am Telefon total entspannt. Er weiß, dass Peymann eine andere Philosophie vertritt. Und dass die Gespräche mit ihm nie einfach sind. „Peymann soll sich eine neue Hose kaufen und mit mir essen gehen“, sagt er. Darin verbirgt sich die Anspielung auf einen Peymann-Bestseller. Ein gutes Essen kann ja keiner ausschlagen.
Dahinter verbirgt sich ein Generationskonflikt
Der Fall Peymann-Renner ist deshalb spannend, weil er Stellvertreterdebatten, einige Wahrheiten und Bigotterien, vor allem aber einen großen Generationskonflikt offenbart. Dass die Sache nicht eindimensional ist, zeigt sich schon daran, dass sich bislang keine Front gegen Renner und die Berliner Kulturpolitik aufgestellt hat. Aber der Regierende Bürgermeister muss sowieso an seinem Kulturstaatssekretär – nach dem bitteren Verlust von André Schmitz – bis zum Ende festhalten. Alles andere würde als Senatsschwäche ausgelegt werden.
Claus Peymann hat in seinem Angriff geschickt eine Fährte zur Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz ausgelegt, wo ein Nachfolger für Frank Castorf ins Haus steht. Peymann sähe in der Berufung von Chris Dercon, dem Leiter der Londoner Tate Gallery, ein Waterloo. Dann würde aus der Volksbühne eine weitere „Eventbude“ werden. Peymann macht den Widerspruch zwischen dem guten, alten Literaturtheater und der oberflächlichen Eventkultur auf. Da steckt Wahrheit drin. Es gehört mit zum Generationskonflikt.
Panzerkreuzer für die Arbeiterschaft
Die Volksbühne sei immer „ein Panzerkreuzer für die Arbeiterschaft“ gewesen, mahnt Peymann. Was für eine Verklärung des Theaters und seiner Besucher! In der Wochenzeitung „Die Zeit“ hat der scheidende Intendant am Donnerstag noch einmal zum heiteren Rundumschlag ausgeholt. Deppen haben erst die Literatur, dann das Theater kaputt gemacht. Literaturnobelpreisträgerin Elfriede Jelinek produziert nur noch Sprachmüll, HAU-Gründer Matthias Lilienthal und der Berliner Festspielechef Thomas Oberender betreiben Eventschuppen. Das Deutsche Theater ist etwas langweilig geworden. Der Renner ist ein Umweltzerstörer, und Müller, der frühere Bausenator, hat keine Ahnung von Oper. Die Schlagzeile lautet: „Der Renner muss weg!“. Genau genommen müsste sie „Der Müller muss weg“ heißen. Aber der Regierende Bürgermeister/Kultursenator ist durch seinen weit verbreiteten Nachnamen gegen solche griffigen Angriffe gefeit.
Peymann gibt beiläufig auch seinem Nachfolger Oliver Reese einen mit. Der sei der gleiche Phänotyp wie Tim Renner. Die smarten Turnschuhmanagertypen müssen für Peymann ein Feindbild sein. Für den stattlichen Theatermann muss offenbar jeder auf einer Demo laut über die Straße brüllen können, und später als Intendant auch im Theater. Die Generation der Steve-Jobs-Verehrer setzt dagegen lieber auf Headsets und digitale Medien.
Das Existierende beschützen
„Gut, wir denken anders“, sagt Tim Renner und muss über das Baureihendenken lachen. „Ich möchte eher Ideen vermitteln und helfen, Künstler zusammen zu bringen.“ Er benutzt mehrfach das Wort kollaborieren.
Mit Peymann würde man eher das Wort provozieren verbinden. Für Renner eine Frage der Vergangenheit. Peymann gehöre zur Generation der 68er, die einen radikalen Bruch mit der Vergangenheit, eine Abgrenzung zur Elterngeneration vollziehen mussten. „Der Widerstand, die Provokation war damals ein legitimer Selbstzweck“, so Renner. Und der Staat wurde infrage gestellt. Jetzt leben wir im digitalen Zeitalter, es gibt ganz andere Probleme. „Wir wollen das Existente nicht angreifen, sondern das Existierende schützen.“
Die Zeit der großen Provokateure ist in der Kultur demnach vorbei. Auch im Theater. Renner setzt, was im Zeitgeist liegt, auf Führungsteams. Und so werden, wenn voraussichtlich Ende April Castorfs Nachfolge öffentlich bekannt gegeben wird, mehrere Namen genannt werden. Zu dem Anlass wird sich wieder der Regierende Bürgermeister als Kulturchef vor den Kameras zeigen.