Graublauer Himmel diesmal über der Waldbühne, sommerliche 22 Grad, kein Gewitter wie vor drei Jahren. Bierdunst und Autan-Geruch hängen über den Zuschauermassen. Und ganz vorne natürlich: die Philharmoniker, in buntem Schlips und bester Abendlaune. Es gilt, ihren Saisonabschluss zu feiern – volksnah und unter freiem Himmel.
Die Musiker begrüßen ihr Publikum mit biegsamen Hüften. Sie fordern zu La Ola-Wellen auf. Doch erst mit Dirigent Gustavo Dudamel kehrt ungeteilte Aufmerksamkeit unter den zwanzigtausend Zuschauern ein. Der Venezolaner mit der munter wippenden Lockenpracht schlägt sein Publikum umgehend in Bann. Hinter seiner Stirn hat Dudamel die erste Sinfonie von Brahms und zwei sinfonische Dichtungen von Tschaikowski gespeichert. Der 33-Jährige lässt den Russen in aller Breite und Stattlichkeit erklingen. Er dehnt Tschaikowskis „Romeo und Julia“ in himmlische Längen. Er produziert eine beschauliche „Sturm“-Fantasie mit erhabenen Meereswogen, schäumenden Strudeln und liebreizender Lyrik.
Packender Rastlosigkeit und luxuriöser Breitbandpathos
Und Brahms' monumentale Erste? Sie scheint an diesem Abend ganz den leidenschaftlichen Geist Tschaikowskis zu atmen. Ja, mehr noch: Dudamel erklärt Brahms und Tschaikowski zu musikalischen Blutsbrüdern. Er verwandelt die Sinfonie des Wahlwieners in vier sinfonische Tableaus, beseelt von packender Rastlosigkeit und luxuriösem Breitbandpathos. Bedächtig intensiv treibt Dudamel den Kopfsatz voran. Im langsamen Satz lässt er idyllische Milde walten. Das hymnische Finalthema ballt Dudamel mit trockenem Stolz zusammen. Kompromisslose Presto-Tempi durchwirbeln die kontrapunktisch verschachtelten Passagen des Schlusssatzes. Alle Achtung: So experimentierfreudig hat man Brahms mit den Philharmonikern noch nicht gehört. Dudamel überrascht immer wieder. Mit seinem intuitiven Zugriff und abenteuerlich sprudelnden Ideen. Der Venezolaner hat die Philharmoniker beeindruckend unter seiner Kontrolle. Seine resoluten Körperbewegungen drücken die Musiker auf Stuhlkante.
Als erste Zugabe zieht Dudamel dann Leonard Bernsteins schlitzohrigen Sieben-Achtel-Walzer aus seiner Repertoireschatzkammer hervor. Dicht danach stachelt die berühmt-berüchtigte Galopp-Passage aus Rossinis Wilhelm Tell-Ouvertüre die Publikumsbegeisterung in die Höhe. Zu Paul Linckes obligatorischer „Berliner Luft“ am Ende schwenken Wunderkerzen und Leuchtstäbe.
Dudamel ist für Späße nicht zu haben
Bemerkenswert, dass Dudamel bis ganz zuletzt die Initiative für sich beansprucht. Denn eigentlich hatte sich in den letzten Jahren der humorvolle Brauch durchgesetzt, die Philharmoniker bei der „Berliner Luft“ ohne Dirigenten machen zu lassen. Weil sie es hervorragend allein können. Und weil es beim Publikum besonders gut ankommt. Ein verschmitzter Rattle beispielsweise hatte im letzten Jahr den Taktstock gegen den Platz an der Trommel getauscht. Die Publikumswirkung: phänomenal. Man hätte sich nun gut vorstellen können, wie der gelernte Geiger Dudamel nach Rattles Vorbild zum Streichinstrument greift und eindringlich mitfiedelt. Doch Dudamel ist für solche Späße an diesem Waldbühnen-Abend nicht zu haben. Einmal mehr scheint er mit seinem Taktstock regelrecht verwachsen zu sein.
Kein anderer Dirigent hat 2013/14 so viele Gast-Konzerte geleitet wie Dudamel. Spektakulär sprang er vor kurzem für den Weltklassedirigenten Mariss Jansons ein, lieferte eine denkwürdige Mahler-Dritte. Nun übernimmt er auch das Waldbühnenkonzert, für das zunächst Sir Simon Rattle vorgesehen war. Dem Noch-Chefdirigenten der Philharmoniker kann das nur Recht sein: Erstens waren die Waldbühnen-Konzerte noch nie wirklich Rattles Sache. Trotz seiner offenen Ausstrahlung und trotz gutmütigen Charmes lässt sich kaum übersehen, dass der Engländer mit den Jahren eventscheuer und grüblerischer geworden ist. Zweitens kann sich der fünffache Vater nun vorzeitig in die Babypause verabschieden. Und drittens, vielleicht am wichtigsten: Rattle gibt den Philharmonikern Gelegenheit, einen besonders vielversprechenden Dirigenten über einen längeren Zeitraum und sogar auf zwei Kurzreisen auszutesten. Denn was noch vor zwei, drei Jahren undenkbar schien, ist spätestens mit der aktuellen Saison sehr offensichtlich geworden: Gustavo Dudamel steht in der engeren Wahl für die Rattle-Nachfolge. Wenn sich die Philharmoniker im nächsten Jahr für ihn entscheiden sollten, wird sich niemand mehr ernsthaft wundern. Es wäre eine deutliche Abkehr von Rattles didaktisch gediegener Künstlertiefe. Es wäre ein Bekenntnis zum genialischen Macher, zum wunderlichen Überflieger.
Gustavo Dudamel hätte das Zeug, eine neue Philharmoniker-Begeisterung auszulösen, auch jüngere Hörer in die Philharmonie zu locken. Sicherlich: Es gibt Alternativen zu Dudamel, besonders unter den jüngeren Dirigenten. Der Lette Andris Nelsons beispielsweise, bedeutendster Schüler von Mariss Jansons. Oder der Kanadier Yannick Nézet-Séguin. Vom rein künstlerischen Standpunkt aus wären sie sogar überzeugender. Denn Dudamels Auftritte mit den großen Werken der Musikgeschichte wirken nicht selten wie mutige Experimente, die erst durch seine geballte Willenskraft in maximaler Lebendigkeit erblühen. Nicht immer ist klar, ob Dudamel weiß, was er tut. Doch eines steht fest: Wenn man den Venezolaner unmittelbar vor sich sieht und die Energie spürt, die er den Philharmonikern in die Körper jagt – dann verheißt das fast zwangsläufig einen besonderes Konzerterlebnis.
Die Berliner Philharmoniker in der Waldbühne: Erleben Sie das Konzertereignis als Panorama und navigieren Sie unten durchs Bild.