Berlin. Der Auftritt von Anna Netrebko in der Staatsoper sorgte für Diskussion. Fans und Kritiker lieferten sich ein lautstarkes Kräftemessen.
Die österreichisch-russische Starsopranistin Anna Netrebko ist an die Staatsoper zurückgekehrt und wurde am Ende der gut dreistündigen Opernaufführung mit stehenden Ovationen vom Publikum gefeiert. Währenddessen fand vor den Türen des Opernhauses eine Demonstration mit ukrainischen Fahnen, Plakaten und „No Netrebko!“-Rufen gegen den Auftritt der umstrittenen Sängerin statt. Die Polizei schirmte die Demonstranten mit Gattern vom Opernpublikum ab. Wegen der aufgeheizten Stimmung mieden viele Besucher am Ende der Aufführung den Hauptausgang. Bei ihrem ersten Gastspiel seit dem russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine trat die 51-Jährige als Lady Macbeth in Giuseppe Verdis Oper „Macbeth“ auf.

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Die Partie hatte sie bereits 2018 in der Premiere an der Seite von Placido Domingo gesungen. Im gängigen Opernbetrieb handelte es sich am Freitag um eine normale Wiederaufnahme, auch wenn die hohen Kartenpreise anderes bezeugen. In dieser Inszenierung von Harry Kupfer liegt die finstere Lady in Schwarz im zweiten Bild des 1. Aktes auf einer weißen Couch. Sie hat von den viel versprechenden Prophezeiungen der Hexen gehört, und ihre Machtgier und Mordlust beginnt zu brodeln. Die Nervosität vor diesem ersten Auftritt ist der Netrebko anzumerken. Ihre Stimme tastet sich zunächst vorsichtig durch den großen Raum. Irgendwann kommt der erste Zwischenapplaus, der über den Abend in Berlin und vielleicht auch über ihre künstlerische Zukunft in Deutschland entscheidende.

Kräftemessen zwischen jubelnden Publikum und Buh-Rufern
Es folgt ein minutenlanges Kräftemessen zwischen dem jubelnden Publikum und einigen hartnäckigen Buh-Rufern, die sich in den oberen Rängen befinden müssen. Und dann passiert das Überraschende. Die Netrebko geht nach vorn an die Rampe, mit verschränkten Armen lächelt sie dem Publikum entgegen. Es ist eine ebenso verwegene wie gewinnende Geste, wie es nur eine echte Primadonna tun kann. Und einsame Weltstars, die die große Bühne brauchen. Im weiteren Verlauf scheint auch bei der Netrebko der Knoten geplatzt zu sein. Die Buhs versiegen, es gibt regelmäßig Zwischenjubel.
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Während der Vorstellung fragt man sich schon, warum die Netrebko auf der Bühne ausgerechnet in die Rolle der unmoralischen, machtgeilen Intrigantin schlüpfen will, eine Rolle, die ihr zeitgleich vorm Opernhaus von den Demonstranten im realen Leben vorgeworfen wird? Aber an diesem Abend taucht die Künstlerin zweifellos emotional tief in ihre Rolle ein. Dazu gehört auch die Läuterungsszene. Wenn die vom Blutgeruch verfolgte Lady Macbeth im vierten Akt durch die Räume schlafwandelt und sich ihr Wahnsinn zu offenbaren beginnt, gelingen der Netrebko die berührendsten Momente. Das Schuldeingeständnis kommt als tropfende Nachtschwärze daher. Jeder Ton sitzt.
Anna Netrebko erreicht die hintersten Plätze im ausverkauften Saal

Die Sängerin der Lady sollte nach Verdis Vorstellungen „ungestalt und hässlich“ erscheinen und eine „rauhe, erstickte, hohle Stimme“ haben. Das kann die Netrebko beides nicht bieten, was nicht nur mit den eleganten Kostümen von Yan Tax zu tun hat. Sängerinnen wollen von Berufs wegen schön singen und gefallen, selbst wenn es sich um die Rolle einer Teufelin handelt. Die Netrebko kann demonstrieren, dass sie sich stimmlich auf dem Höhepunkt ihrer Karriere entlang bewegt. Strahlende Höhe und dramatische Wucht kann sie ebenso wie verspielte Koloraturen. Sie erreicht im tragfähigen Piano die hintersten Plätze im ausverkauften Saal. Aber besonders auffällig ist an diesem Abend ihre noch dunklere, warmherzige Fülle, mit der sich nicht nur die tiefen Lagen ausgestalten kann.
Es ist ein rundum musikalisch beglückender Abend. Bertrand de Billy am Pult der Staatskapelle Berlin bringt viel Lebendigkeit in die Partitur, die Abstimmung mit dem Chor wird sich in den drei Folgevorstellungen sicherlich noch einpegeln. Hatte Placido Domingo in der Premiere eher den altersmüden Tyrannen verkörpert, kehrt der italienische Bariton Luca Salsi jetzt das Umtriebige, Irrlichternde im Monstrum Macbeth hervor.
Brennende Trümmer gibt es auf der Bühne, und Leichen werden gefleddert
Die Inszenierung von Harry Kupfer und das Bühnenbild von Hans Schavernoch waren bei der Premiere als etwas ästhetisch aus der Zeit Gefallenes kritisiert worden. Zu sehen sind weiße Ledermöbel zwischen glattem Pseudo-Marmor. Aber da sind auch die brennenden Trümmer und die vielen Leichen, die zu Beginn gefleddert werden. Unweigerlich tauchen die Bilder vom Ukraine-Krieg und den Demonstrierenden vorm Opernhaus in einem auf. Plötzlich wächst der Inszenierung eine unerwartete Aktualität zu. Die Oper erweist sich an diesem Abend wieder einmal als eine politisch brisante Kunstform. Auf und hinter der Bühne.