Unverputzte Rigipswände kennt man eigentlich eher vom Weg- als vom Hinsehen. Sie verkörpern einen Zwischenzustand, etwas Unfertiges – eigentlich will man sie schnell verschwinden sehen, wenn man zum Beispiel ein Dach ausbaut oder den Grundriss einer Wohnung ändert. Dabei werden sie gerade durch die Abwesenheit eines Gestaltungswillens zu spannenden Objekten: die willkürliche Strichführung des Fugenmaterials, zufälliger Abrieb von Gummischuhen, Spritzer von Gips, krummgehämmerte Nägel machen jede Kartonplatte zum Unikat und zum Archiv verrichteter Arbeit.
Fast ist es, als sähe man all dies zum ersten Mal, wenn man die Ausstellung „The First Finger (chapter II) von Tolia Astakhishvili im Haus am Waldsee betritt. Und das beschreibt zum Teil schon das Geheimnis der Arbeiten, die hier gezeigt werden. Die ehemalige Fabrikantenvilla an der Argentinischen Allee wirkt im Inneren wie in den Rohbauzustand versetzt. Die georgische Künstlerin, die hierfür eigens in das Haus einzog, hat mit einer Reihe von baulichen Interventionen die Atmosphäre der sonst lichtdurchfluteten Räume ins Halbdunkle und Verwinkelte verschoben. Auch hat sie Zierblenden und Fußleisten entfernt, hier und dort vermeintlichen Schmutz oder Wasserschäden an die Wände gemalt. Nie zuvor hat man das Anwesen so intensiv als Sedimentierung von Zeitschichten erfahren können wie jetzt.
„The First Finger“: Wenn der Körper unterkühlt
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Der Titel „The First Finger“, erläutert Kuratorin Beatrice Hilke, beziehe sich auf den verstörenden, aber lebensnotwendigen Prozess, den ein menschlicher Körper im Fall extremer Unterkühlung einleitet: Er opfert, zuerst in Gestalt der Finger und Zehen, die Extremitäten, um die Durchblutung der inneren Organe weiterhin gewährleisten zu können. Er setzt, wenn man so will, Prioritäten. Was ist zum Leben und zu seinem Schutz wirklich notwendig, was muss unhintergehbar vorhanden sein? In dieser Perspektive könnte man Astakhisvilis gespenstische Einbauten plötzlich als galliges Zitat der Lebensbedingungen lesen, die mittellosen Menschen zugemutet werden.
Aber das wäre nur eine von vielen möglichen Hinsichten auf diese spannende Schau, die auch nach dem Verhältnis von Körpern und Räumen fragt. Im oberen Stockwerk behindert ein rätselhafter, mit Trapezblech beschlagener Riesenblock den Weg durch die Räume. Aus ihm dringen Geräusche, wie man sie von Baustellen kennt – das Sirren von Schwingschleifern, das Hämmern, das Auftreffen fallen gelassener Objekte auf dem Boden. Unwillkürlich fühlt man sich an den Hindernisparcours in U-Bahnhöfen erinnert, wenn dort Teilbereiche saniert werden müssen, und tatsächlich haben die aktuellen Bauarbeiten an der Neuköllner Hermannplatz hier Pate gestanden. Unwillkürlich sucht man nach einem Eingang in das lärmende Objekt, das mehrere Dutzend Quadratmeter für sich in Beschlag nimmt. Aber es gibt keinen. Die Zukunft bleibt eine Black Box.
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Von einem „Wurmloch“ spricht Anna Gritz, Direktorin des Hauses am Waldsee. Der Faltenwurf im raumzeitlichen Kontinuum besteht hier darin, dass Tolia Astakhishvili mit dieser Ausstellung fortsetzt, was sie im März im Bonner Kunstverein begonnen hat. Auch dort öffnete sie mit einer immersiven Installation den Blick auf vernachlässigte Zweckräume wie Park- oder Treppenhäuser und kombinierte ihn mit alltäglichen Objekten und einer Auswahl von Arbeiten befreundeter Künstlerinnen und Künstler wie Judith Scott, Ser Serpas oder Vera Palme. Zentral ist auch in Berlin das eindrucksvolle Video „I Remember (Depth of Flattened Cruelty)“, das sie zusammen mit dem walisischen Künstler James Richards erarbeitete. In hypnotischen Überblendungen fließen dort frühere Ausstellungen und Kunstwerke ineinander, das dreidimensionale Orientierungssystem des Alltags muss angesichts dieser Bilder kapitulieren. Es öffnen sich neue Sichtachsen auf das Leben und das Verlebte, auf das zu häufig Übersehene – das viel weniger nebensächlich ist, als man denkt.
Haus am Waldsee, Argentinische Allee 30, Dahlem. Informationen: hausamwaldsee.de