Berlin. Wie stellt man einen Riesen auf die Bühne? Zu Beginn von Georg Friedrich Händels „Saul“ hat David Goliath bereits erschlagen. Dass der Hirte dem Hünen den Kopf abschlägt, steht ja schon in der Bibel. In Axel Ranischs szenischer Bearbeitung des Oratoriums aber wird nun ein riesiger Kopf auf die Bühne geschleift – und dominiert sie als ewiges Mahnmal.
Man kann richtig sehen, was dem Regisseur dabei so alles durch den Kopf ging. Aus dem Loch, das er dem Riesen mit einem bloßen Stein in den Kopf geschlagen hat, gelangt David (Aryeh Nussbaum Cohen) nach oben, steigt zur Macht auf. Auf dem höchsten Punkt des gekippten Kopfes, der Schläfe, steht der Thron von König Saul (Luca Tittoto), dessen Stellung durch den Sieg über die Philister gefestigt ist.
Vor dem Umzug muss man noch mal ganz bewusst in dieses Haus eintreten
Aus dem offenen Mund des Toten aber tritt der Hohepriester (Tansel Akzeybek), der das Wort Gottes verkündet. Und dessen Gunst wendet sich bald David zu und weg von Saul. Weil der zunehmend – kopflos agiert. Eindringliche Kopf-Geburten der Regie: Ein einziges, wenn auch riesenhaftes Bühnenrequisit fasst das ganze Drama des Oratoriums in ein starkes Bild.
„Saul“ ist die letzte Premiere an der Komischen Oper vor dem Umzug. Bald wird das Haus saniert, die Oper zieht für lange Zeit ins Schiller Theater. Man muss also noch mal ganz bewusst durch den Eingang schreiten. Und wenn die Oper an die Behrenstraße zurückkehrt, ist der neue Eingang ja an der Seite, hin zum Prachtboulevard Unter den Linden.
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Die letzte Premiere vor dem Umzug, als Höhepunkt der Händel-Festspiele hier – da muss ein großer Schlusspunkt gesetzt werden. Große Erwartungen lasteten da auf den Schultern des Filmregisseurs Ranisch, der sich anderswo auch schon Meriten als Opernregisseur erworben hat, aber damit nun (nachdem er im Dezember schon die Gala zum 75-Jährigen Bestehen des Hauses bestreiten durfte) sein spätes Operndebüt gibt. Nicht nur in der Komischen Oper, überhaupt in Berlin.
Eine ganz heutige Sicht auf das Drama – und zuletzt ein echter Kontrapunkt
Und „Saul“ ist kein Bühnen-Evergreen. Im Gegenteil. Den Trauermarsch aus dem dritten Akt, den kennt man, der wird gern bei Staatsbegräbnissen gespielt. Der Rest ist leidlich unbekannt. Dabei hat Händel, der damit 1837 in London das englische Oratorium begründete (und die vorherrschende italienische Oper ablöste), darin wunderschöne Musik komponiert.
Verteilt auf gleich sechs starke Rollen: der Hohepriester als Tenor, David als Countertenor, König Saul als Bass, der eifersüchtig verfolgt, wie das Volk den Helden plötzlich mehr liebt als ihn. Und dann Sauls Kinder: die Soprane Merab (Penny Sofroniadou), die David heiraten soll, aber wegen seiner geringen Herkunft verschmäht, Michal (Nadja Mchantaf), die ihn stattdessen heiratet. Und Tenor Jonathan (Rupert Charlesworth), dessen Freundschaft zu David so tief ist, dass er ihn sogar gegen den cholerischen Vater beschützt.
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Ranisch sieht in dieser alttestamentarischen Geschichte ein hochmodernes Drama. Bevor das Oratorium beginnt, gibt es erst mal einen Trickfilm in Stummfilmmanier, bei der die Stimme des Regisseurs höchstselbst die Vorgeschichte erzählt. Nein: Flüstert. Wie ein Banknachbar, der einem noch schnell zuraunt, was man eigentlich, es steht ja in der Bibel, wissen müsste.
Aber wenn die Bühne sich öffnet, erzählt Ranisch die Geschichte doch ganz anders. Und erfrischend neu. Als die eines alten weißen Mannes, der nicht mehr zeitgemäß ist. Aber auch die eines modernen Menschen, der der nicht mehr blind einer Religion folgt, sondern sein eigenes Gewissen über den Willen Gottes stellt – und damit dessen Gunst verliert.
Viel Konflikt-Potenzial - mehr Oper denn Oratorium
Der offen schwule Regisseur sieht freilich noch einen anderen Grund für Sauls Raserei und Wahn: Homophobie. Die Liebe von David und Jonathan war schon in der Malerei ein beliebtes Thema, und auch Händel und sein Librettist Charles Jennens haben das stark hervorgehoben („Deine Liebe war mir mehr als die Liebe einer Frau“). Ranisch steckt seinen David in einen Männerrock. Und die Liebe zu Jonathan ist hier ganz fleischlich und sinnlich. Und wird dann zur Tragödie, wenn David auch die Schwester erhört..
Viel Konfliktpotenzial also, mehr Oper denn Oratorium. Und bei alldem ist immerzu der Riesenschädel auf der Bühne. Dessen Augen im Dunkeln leuchten und das Publikum ständig im Auge hat. Wenn der Kopf nach der Pause dann zum Todesschädel verrottet, bietet er immer noch Humus für weitere Krieg. Weiteren Tod. Und weitere Schwermut.
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Wie König Saul, der ehrlos (und ohne Todesszene) gestorben ist, leidet nun auch David unter der Last der Macht. Und so bürstet Ranisch den Lobgesang am Ende gegen den Strich und lässt ihn auf einem ziemlich heutig aussehenden Schlachtfeld von den Toten singen. So schön dieses 25-minütige Finale auch komponiert ist – so will Ranisch den Abend nicht enden lassen.
Und setzt noch das sehr moderne Lied „King David“ von Herbert Howells von 1923 hintendran. Eine traurige Elegie, in dem David-Sänger Nussbaum Cohen die Schwermut Davids besingt. Ein bewusster Kontrapunkt. Und ein ästhetischer Bruch, der tiefen Sinn macht. Der „Saul“, den er hier inszeniert hat, ist eine klare Metapher auf die Sinnlosigkeit von Kriegen, auf die Kurzlebigkeit der Volksgunst – und auf Macht, die depressiv macht.
Fast wäre der Saul-Sänger beim Schlussapplaus in den Orchestergraben gestürzt
Am Ende stürmischer Beifall für alle. Für Dirigent David Bates und sein furioses Orchester. Darunter so ungewohnte Töne wie ein Carillon oder zwei Theorben, Lauten mit langen Schalenhälsen, die weit in die Bühne ragen. Beifall für den Chor und die allesamt stimmgewaltigen Solisten.
Wobei der arme Saul-Sänger damit leben muss, dass auch die Sympathie des Publikums bei David liegt. Beifall auch für den Regisseur, der künftig weiter am Haus arbeiten wird. Ein Riesen-Erfolg, um in der Bildsprache zu bleiben. Wobei der Schlussapplaus fast zur Falle wird. Da rutschen die Solisten auf dem blutigen Boden. Und fast wäre Saul noch in den Orchestergraben gestürzt.