Anfangs sehen wir einen Grashüpfer im Wald. Aber dann ist da ein kleines Mädchen, das ihn fängt und in ein Einweckglas steckt. „Schon gut“, sagt es, „ich tu dir nicht weh.“ So weit, so harmlos. Doch dann steht wie aus dem Nichts ein fremder Mann vor dem Kind. Will es kennen lernen, will sein Freund werden, fängt ihm einen zweiten Grashüpfer.
Doch dann zwingt er es, mit ihm zu der Blockhütte zu gehen, wo es mit seinen zwei Vätern das Wochenende verbringt. Plötzlich sind da noch drei andere Fremde. Und der Kleinfamilie geht es wie dem Grashüpfer im Glas: Sie werden in dem Blockhaus eingeschlossen und kommen nicht mehr raus.
„Knock at the Cabin“: Antiwerbung für Wochenendurlaube in Blockhütten
Blockhütten erfreuen sich in den USA großer Beliebtheit für ein Wochenende auf dem Lande. Wenn aber Filme in den sogenannten „Cabins“ spielen, sind das meist Horrorfilme. Wo die Urlauber aus der Stadt ein besonders leichtes Ziel für Psychopathen sind, so allein da draußen, weit entfernt von jeglicher Hilfe und ohne Handy-Netz.
Da wird der Kurzurlaub zum Alptraum. Siehe die „Cabin Fever“-Filme, „The Cabin in the Woods“. Oder jetzt auch „Knock at the Cabin“, dem neuesten Streich von Thriller-Meister M. Night Shyamalan, der am 9. Februar ins Kino kommt. Aber der variiert nicht nur die immergleichen Genreklischees. Er setzt verstörend neue Akzente.
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Das fängt mit den Heimgesuchten an. Wieder wird eine bürgerliche Kleinfamilie vom Grauen heimgesucht. Aber diesmal ist es eine Patchworkfamilie: das Schwulenpaar Eric (Jonathan Graff) und Andrew (Ben Alridge) und ihre Adoptivtochter Wen (Kristen Cui). Aber auch die vier Fremden, die die Familie gefangen nehmen – darunter Dave Bautista, das Muskelpaket aus „Guardians of the Galaxy“, und Rupert Grint, einst der beste Freund von Harry Potter – wollen nicht das Übliche: schnelles Geld, Rache nehmen oder einfach sadistische Triebe ausleben.
Nein, sie alle reden von denselben Visionen: Dass die Welt in wenigen Stunden untergeht. Und dass diese Kleinfamilie die Auserwählten sind, die das Ende der Welt aufhalten können. Aber nur, wenn die Drei einen von ihnen opfern. Ist das ein besonders grausames Spiel? Ist die Patchworkfamilie Opfer einer irren Massenpsychose?
Ungebetene Gäste, die sich als die vier Reiter der Apokalypse ausgeben
Aber mit jeder Stunde, die sie verrinnen lassen, geschehen Katastrophen auf der Welt, Massenfluten, Infernobrände, die live im Fernsehen gezeigt werden. Die Zeit drängt, drohen die Vier, die sich als Jünger der Wahrheit gerieren. Und ihre Verzweiflung demonstrieren sie schlimmstmöglich: indem sie nach und nach einen von sich töten.
Als abgeklärter Kinozuschauer, der mit den Konventionen des Genrekinos vertraut ist, wartet man geduldig auf den überraschenden Wendepunkt, den sogenannten „Plot Twist“, der alles erklärt. Man wartet darauf vor allem Shyamalan, der ja seit seinem Erfolgsdebüt „The Sixth Sense“ (1999) ständig mit überraschenden Wendungen arbeitet, die einen Film rückblickend ganz anders ausschauen lassen. Damit hat sich der Regisseur zum ausgehenden Jahrtausend zu einem Wunderkind von Hollywood geriert. Und einer Art Fürst des Arthouse-Grusels.
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Auch wenn seine späteren Filme immer abstrusere Geschichten erzählten – und immer unglaubwürdige Auflösungen fanden. Wie die Kommandozentrale in seinem letzten Film „Old“, die, wie man erst am Schluss erfuhr, ein zynisches Experiment mit Strandurlaubern durchführte, die dadurch rasant alterten. In der Kommando-Zentrale aber saß – Mister Shyamalan selbst, der wie Alfred Hitchcock gern Selbstaustritte zelebriert und sich so einmal als Strippenzieher in Szene setzte.
Was tun, wenn du als Einziger das Ende der Welt aufhalten könntest?
Die einen lieben und verehren Shyamalan als Kinomagier. Ihm werden so auch höchste Ehren zuteil, wie die Jury-Präsidentschaft auf der letzten Berlinale. Die anderen sehen dagegen nur die immergleiche Masche oder diffamieren ihn gar als „Shyamalamadingdong“, als jemanden, der einen an der Waffel hat (eine Verballhornung des Songs „Shama Lama Ding Dong“ von Otis Day and the Knights).
Aber auf den typischen Plot-Twist, auf eine Auflösung also, so absurd sie auch sein mag, wartet man in „Knock at the Cabin“ vergebens. Die vier Eindringlinge gerieren sich tatsächlich als die vier Reiter der biblischen Apokalypse, die Plagen voraussagen, die denn auch eintreten. Und die am Ende nicht nur im Fernseher dräuen.
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Da bilden sich düstere Wolken über dem abgeschiedenen Wald. Und, besonders verstörend, überall auf der Welt fallen Flugzeuge vom Himmel. Auch in diesem Idyll. Wie aber damit umgehen? Soll die heile, harmonische Idealfamilie wirklich einen der Ihren opfern, um den Rest der Menschheit zu retten? Oder soll sie warten, bis die Jünger sich alle selbst massakriert haben, um dann die letzten Überlebenden auf einer zerstörten Welt zu sein?
Gibt es einen tieferen Sinn? Shyamalan lässt alles offen - und das Publikum mit seinen Ängsten allein
Nach seinen letzten, eher enttäuschenden Werken wie „Old“ oder dem auch thematisch verwandten „The Visit“ kehrt Shyamalan hier zu seinen Wurzel zurück. Er spielt mit Urängsten der Menschheit, mit dem Eindringen des Makrokosmos Welt in den Mikrokosmos Familie. Und kombiniert dies mit durchaus realen Horrorszenarien einer aus den Fugen geratenden Welt.
Aber gibt es einen tieferen Sinn hinter all dem? Will der Meister der schrägen Fiktion damit wirklich vor dem Klimawandel warnen? Oder nutzt er sie bloß als kühl kalkulierte Kulisse für Sensationseffekte? Ist der Film gar eine Aufforderung zur Selbstjustiz, ein Werbefilm für die Waffenlobby für Selbstverteidigung?
All das kann in den Film hineingelesen werden. Shyamalan lässt das offen. Und das Publikum mit seinen Ängsten allein. Die einen werden sich wieder mit Lust diesem sehr speziellen Gänsehautkino aussetzen. Aber auch die Ding-Dong-Fraktion dürfte sich wieder bestätigt sehen.
Horror USA 2023 100 min., von M. Night Shyamalan, mit Ben Alridge, Jonathan Groff, Kristen Cui, Dave Bautista, Rupert Grint, Nikki Amuka-Bird, Abby Quinn