Ein Theater-Muss zum Jahresende: Franziska Walser und Edgar Selge mit ihrer Familienproduktion „Rosige Aussicht“ am Schiller Theater.
Es beginnt wie ein Sketch. Eine Frau steht in der Küche, klingelt ihren Mann zum Essen. Und dann beginnt eine feine Choreographie: Er hält seine Hände hin, damit sie ihm die Ofenhandschuhe überstreift, er holt den Braten aus dem Ofen, sie decken den Tisch von zwei Seiten, geben über Kreuz das Essen auf den Teller des anderen. Routinierte, über Jahre eingespielte Handgriffe. Und das minutenlang, ohne dass ein Wort fällt. Bis Nancy (Franziska Walser) doch was sagt: „Ich glaube, ich möchte die Scheidung.“ Und Bill (Edgar Selge) kontert: „Na gut“.
Schon will sich der Vorhang schließen. Da regt sich Widerstand. Aus dem Publikum. „So geht das nicht.“ „Das seid doch nicht ihr!“ Drei Menschen springen von ihren Sitzen. Keine Zuschauer, wie sich herausstellt. Es ist Brian (Christoph Förster), der jüngere Sohn, Ben (Jakob Walser), der ältere, und Jess (Janina Rusenksa), dessen schwangere Frau.
Es gibt nicht nur Helikopter-Eltern, es gibt auch Helikopter-Kinder
Sie können nicht fassen, dass die Eltern sich nach 50 Jahren trennen wollen. Man will doch auch liebe Großeltern fürs erwartete Kind. Und Brian, der einsame Single, spricht ihnen gleich die Zurechnungsfähigkeit ab. Weil sie nach einem halben Jahrhundert zu zweit gar nicht mehr ermessen können, was es heißt, allein zu sein.
Die Kinder drängen auf die Bühne, und jetzt erst geht dieses Stück los. Und wird zu einer Art Familientherapie, bei der man als Zuschauer durchs Schlüsselloch gucken kann. Man kennt ja bereits Helikopter-Eltern, die ihre Kinder überbehüten, auch wenn sie längst erwachsen sind. Hier aber zeigt sich, es gibt auch Helikopter-Kinder, die ihren Eltern vorschreiben wollen, wie sie zu leben haben. Für die paar Jahre, die ihnen noch bleiben.
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Das ist die Ausgangslage von „Rosige Aussicht“, der deutschsprachigen Erstaufführung des Broadway-Erfolgs „Grand Horizons“ von Bess Wohl, die am Sonntag in der Komödie im Schiller Theater Premiere hatte. Und es ist der Reiz dieser Inszenierung, dass da mit Franziska Walser und Edgar Selge nicht nur ein echtes Ehepaar auf der Bühne steht, sie haben auch ihre Familie mitgebracht: ihr Sohn Jakob und seine Frau spielen das junge Paar, und Neffe Titus Selge führt Regie. Ein Familiendrama als Familienprojekt, und das zum Fest der Liebe. Plagenbringende Weihnachtszeit.
Im Home, Sweet Home offenbaren sich lauter Geheimnisse und Lebenslügen
Es ist hinreißend, wie die fast 80-Jährigen da fast zu Statisten, ja zu Kleiderständern in ihrem eigenen Leben degradiert werden. Weshalb Nancy eben ausbricht und sich gesellschaftlich engagieren will – mit Kleidersammeln für, da wird das Stück ganz gegenwärtig, Klima- und Ukraine-Flüchtlinge. Im Verlauf der Familienaufstellung werden auch große, über Jahre verschwiegene Geheimnisse und Lebenslügen offenbar.
Beide Ältern haben oder hatten anderweitige Affären. Aber auch Ben und Jess streiten sich schon im verflixten siebten Jahr, und ein Date von Brian endet kläglich. Der Nachwuchs hat noch nicht in seine Rollen gefunden oder begehrt schon dagegen auf. Aber die Ältern sollen gefälligst brav ihren Part zu Ende spielen. Wo man ihnen doch schon einen so schönen Alterssitz für sie besorgt hat in der Wohnsiedlung mit dem verheißungsvollen Namen, der dem Stück seinen Titel gibt.
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„Rosige Aussicht“ ist nicht die klassische Boulevardkomödie, die man sonst an diesem Haus kennt. Komisch ist das Stück schon auch, aber immer tragikomisch, weil dahinter bittere Realitäten stehen. Und die hat Titus Selge mit seinen Anverwandten sehr fein ausgearbeitet. Klug schon die Wahl, die Jungen aus den Publikumsreihen aufstehen zu lassen. So ist das nicht nur ein Drama „da oben“ auf der Bühne, das Thema ist damit gleich bei uns.
Und spielt sich das alles erst mal wie in einer Sitcom im Mikrokosmos Wohnküche ab, erweist sich das Bühnenbild als sehr mobil, kann mal nach hinten oder zur Seite gerollt werden. Da wird dann der Blick frei auf eine gar nicht so rosige Aussicht, mit einer riesigen Autobahnbrücke, wo das Leben über das Tal der Abgeschobenen hinwegsaust.
Die letzte Produktion der Komödie vor dem Auszug aus dem Schiller Theater
Außer bei „Mord im Orientexpress“ hat die Komödie noch nie die gesamte, riesige Schiller-Bühne benutzt wie hier. Um ganz bildlich Tiefe auszuloten. Aber auch, um die Leere zwischen den Menschen aufzuzeigen. Da kann Bill sogar mit dem Möbelwagen vorfahren. Und dann mit Lust in die Küche krachen.
Kaum zu glauben, dass die beiden Hauptdarsteller mit ihrer Produktion hausieren gehen mussten. Zwei vertraute Theater in Hamburg und München hatten zuvor abgesagt. Welch ein Glück für die Berliner, dass es so an die Komödie gekommen ist. „Rosige Aussicht“ ist ein absolutes Theater-Muss zur Jahresendzeit. Und das auch noch aus einem anderen Grund. Es ist die letzte Produktion der Komödie am Schiller Theater. Im Januar muss sie ihr Ausweichquartier gegen ein anderes einlösen. Auch diese Aussicht ist nicht gerade rosig.