Berlin. Die Volksbühne kommt auch nach dem Abgang von Kurzzeit-Intendant Chris Dercon nicht zur Ruhe. Die ehemaligen Besetzer haben sich in einem offenen Brief an den Regierenden Bürgermeister Michael Müller (SPD) zu Wort gemeldet. Überschrieben ist er: „Erklärung des Besetzerinnen-Kollektivs“. Darin fordern diese, dass die Zukunft der Volksbühne öffentlich ausgehandelt werden muss. Man habe das Haus im September 2017 auch besetzt, um gegen die „Hinterzimmerpolitik und ihre relative Willkür“ zu protestieren.
Diese Gefahr sehen die Briefverfasser erneut, wenn nach einem oder mehreren Nachfolgern Dercons gesucht wird. Interimsintendant Klaus Dörr hatte sich bereits dafür ausgesprochen, die Last auf mehrere Schultern zu verteilen. Die ehemaligen Besetzer verweisen zudem auf die prekäre Situation des Hauses. Sie machen Dercon für die „Zerstörung des Sprechtheaters mit Ensemble und Repertoire“ verantwortlich. Das wolle man gemeinsam wieder aufbauen.
Dercons Intendanz wird als „gescheitertes Experiment“ und „kulturpolitischer Skandal“ bezeichnet. Eine Analyse, die nicht ganz von der Hand zu weisen ist: Nach Dercons Rückzug hatte es geheißen, die Volksbühne sei in enormen finanziellen Schwierigkeiten. Seit Beginn seiner Intendanz litt das Theater unter zu geringer Auslastung bei gleichzeitig hohen Ausgaben. Kultursenator Klaus Lederer (Linke) hatte im Kulturausschuss des Abgeordnetenhauses aber Berichte zurückgewiesen, wonach die Bühne vor dem Ruin stehe.
Die Zukunft der Volksbühne, heißt es im Brief weiter, sehe das Kollektiv als „avantgardistisches Sprechtheater mit Ensemble und Repertoire“. Was wohl in etwa der künstlerischen Ausrichtung vor dem Abgang von Intendantenlegende Frank Castorf entspricht. Weitere Besetzungen erachte man momentan nicht für notwendig. Lederer hatte kürzlich erklärt, das Theater solle „diverser, weiblicher, jünger“ werden. Das hatten auch die Besetzer der Volksbühne gefordert – neben einer sogenannten kollektiven Intendanz.
"Notwendige Zeit und echtes Mitspracherecht einräumen"
Jetzt wollen die Briefschreiber daran beteiligt werden, eine neue Intendanz zu finden: „Den Mitarbeiterinnen, Fachleuten und dem Publikum muss in diesem Prozess die notwendige Zeit und echtes Mitspracherecht eingeräumt werden“. Ab sofort will das Kollektiv öffentlich Verhandlungen über die Zukunft der Volksbühne führen. Dadurch sollen die diversen Interessen sichtbar werden. Die erste offene Versammlung ist für den 6. Mai, 16 Uhr, auf dem Rosa-Luxemburg-Platz angekündigt.
Unklar ist indes, von wem der Brief stammt. Die Administratoren der Facebook-Seite des Kollektivs B6112, jene Gruppe, die im September 2017 für die Besetzung verantwortlich zeichnete, veröffentlichten eine Gegenerklärung. Sie erklären, man habe „mit großem Erstaunen“ den Brief gelesen. Man sehe sich nicht als Besetzer, sondern als Kunstschaffende, und wolle sich auch nicht als Betreiber oder Ensemble der Volksbühne installieren. Stattdessen arbeite man für ein Stadttheater, dass „eine zentrale Rolle in der gesamtstädtischen Widerstandsbewegung spielt“.
Es sieht so aus, als herrsche unter den ehemaligen Besetzern keine Einigkeit. Die Lust zur Inszenierung ist ihnen aber nicht abhanden gekommen: So sei man zwar überrascht von dem Brief, heißt es in der Gegenerklärung, erkenne aber den „künstlerischen Wert für unser Werk an“. Das Schreiben füge sich als gleichberechtigter Erzählstrang in das „kollektive Großkunstwerk“ ein. Es scheint, als ob die Volksbühne Berlin weiter prächtig unterhält – ob als Spielstätte oder Spielball der Interessen.
Chris Dercon wird noch bis Ende des Jahres bezahlt
Der Volksbühne droht jetzt eine Hängepartie
Kultursenator erklärt Abgang des Volksbühnen-Intendanten