Mit der fulminanten Premiere des Musicals „Anatevka“ hat die Komische Oper Berlin ihren 70. Geburtstag gefeiert.
In Anatevka, dem fiktiven Schtetl im zaristischen Russland, wird im Jahr 1905 viel gelacht und gelitten. Für Barrie Kosky, der das gleichnamige Broadway-Musical jetzt an seiner Komischen Oper zur gefeierten Premiere gebracht hat, muss Anatevka eine sehr persönliche Geschichte sein. Das offenbart gleich das erste Bild. Statt einer Dorfidylle hat ihm Bühnenbildner Rufus Didwiszus alte Schränke übereinander gestapelt. Schränke statt Koffer. Ein Junge von heute fährt mit seinem Roller an einem Schrank in der Bühnenmitte vorbei. Dann nimmt er eine Fiedel aus dem Schrank, in dem Pelzmäntel hängen. Mit solchen Mänteln hat Koskys Vater gehandelt, in Australien, wohin der Großvater nach Pogromen aus einem weißrussischen Schtetl geflüchtet war. Als der Junge den Schrank erneut öffnet, steigt Milchmann Tevje heraus, gefolgt von der ganzen Mischpoke nebst Rabbi und Heiratsvermittlerin aus Anatevka. Die jüdische Tradition wird im ersten Hit beschworen.
Max Hopp überrascht in der Rolle des Milchmannes Tevje
Jerry Bocks Musical basiert auf Erzählungen von Scholem Alejchem und erlebte 1964 seine Uraufführung in New York. An der Komischen Oper hat Walter Felsenstein es bereits 1971 auf die Bühne gebracht. Es wurde ein Longseller. Kosky macht zunächst nichts anderes als Felsenstein, er erzählt die Geschichte voller Humor und Traurigkeit, mit all ihren Höhen und Tiefen und manchmal auch Längen. Ihm steht dafür ein perfekt abgestimmter, spielfreudiger Opernapparat zur Verfügung – und in der Hauptrolle ein Schauspieler, der als Tevje rundum überrascht. Max Hopp, gerne ein Mann für atemlose Überzeichnungen, findet hier genau das richtige Maß zwischen Witz und Einfühlsamkeit. Er nähert sich seinem Vorzeige-Song „Wenn ich einmal reich wär“ auch nicht aus sängerischer Sicht, sondern gestaltet aus dem Text heraus. Das wirkt unpathetischer und uneitler als meist üblich. Überhaupt ist Hopp als grandioser Allrounder in Anatevka unterwegs. Als aggressive junge Russen ins Schtetl eindringen, lässt er sich in deren Tanzschritte einbeziehen. In seiner Körpersprache wird alles zwischen Anpassungswille, Traditionspflicht und Angst spürbar.
Ihm zur Seite lebt die Golde der Dagmar Manzel. Es ist eine kleinere Rolle für die beliebte Diva. Ihre schnoddrige Mame, die in der Familie eigentlich alles im Griff hat, könnte genauso gut auch eine Berliner Kiezmutter sein. In einer der sprühendsten Szenen liegen Tevje und Golde im Bett, der eigentlich ein Schrank ist. Tevje traut sich nicht, seiner Frau zu erklären, dass er einem armen Schwiegersohn zugestimmt hat. Er erklärt es lieber mit der toten Großmutter, die ihm im Traum erschienen ist und es so will. Eine urkomische, glamouröse Geisterszene folgt. Golde stimmt zu.
Fünf Töchter hat das Paar, drei im heiratsfähigen Alter. Tevje hat sich im Stück damit herumzuschlagen, dass die Tradition längst in Auflösung begriffen ist. Tochter Zeitel (anmutig: Talya Lieberman) will lieber den armen Schneider Mottel (knuddelig: Johannes Dunz) als den alten reichen Metzger Lazar Wolf (bullig: Jens Larsen) heiraten. Hodel (Alma Sadé) liebäugelt mit dem Hauslehrer und Frührevolutionär Perchik (stattlich: Ezra Jung), dem sie in die Verbannung nach Sibirien folgt.
Zwischendurch lässt Kosky immer wieder die Szene einfrieren, im Spotlicht spricht der hadernde Tevje zu Gott und dem Publikum. Das ist ebenso witzig wie berührend. Am Ende stimmt er den Ehen zu. Erst bei seiner dritten Tochter, die heimlich einen Russen heiratet, endet seine Vaterliebe. Es geht zutiefst menschlich zu auf Koskys Bühne.
Demgegenüber stehen atemberaubende Choreografien von Otto Pichler, etwa wenn sich die muskulös einbrechenden Russen mit der ausgelassenen jiddischen Männertanzrunde verbinden. Ein Bild voller Lebensfreude. „Anatevka“ lebt auch vom Orchester, das unter Leitung von Koen Schoots zu verführen weiß, ohne jemals in kitschige Sounds zu verfallen. Der Regisseur vermeidet brutale Darstellungen. Beim Überfall auf die Hochzeitsgesellschaft überschütten Russen die Familie mit Milch aus riesigen Kannen. Es geht Kosky weniger um die Gewalt der Täter, sondern um das Bild der Erstarrung in Todesangst.
Im zweiten Aufzug erfolgt die Vertreibung. Es schneit. Tevje zieht seinen Karren wie Mutter Courage durchs Schtetl. Die Familie zerfällt. Die letzten Töne gehören dem jungen Fiedler. Es herrscht Stille, bevor der Premierenjubel losbricht. Die Komische Oper hat den Erfolg bereits eingeplant und viele Vorstellungen angekündigt.
Komische Oper, Behrenstr. 55–57, Mitte. Tel. 47 99 74 00 Termine: 5., 6., 9., 16., 21., 22., 27., 29. und 31. Dezember