„Kammerspiel“ nennt man so etwas gerne. Mit der ersten Premiere dieser Saison zeigt Intendant Barrie Kosky an seiner Komischen Oper, dem kleinsten der großen Opernhäuser Berlins, eine neue Inszenierung von Claude Debussys „Pelléas et Mélisande“. Das tut der Meisterregisseur nicht, ohne zu betonen, dass das kleine Format seines Hauses, an welchem das Stück in 70 Jahren erstmals aufgeführt wird, noch nicht mal das kleinste ist, das schlechthin für dieses bahnbrechende Werk denkbar ist: Die Opérà Comique in Paris, wo die Oper nach dem Drama des Belgiers Maurice Maeterlinck im Jahr 1902 uraufgeführt wurde, sei noch viel kleiner gewesen!
Tatsächlich sucht Kosky mit Hilfe des Bühnenbild- und Lichtgestalters Klaus Grünberg, seinen Raum noch einmal mutwillig intimer zu machen: Das Einheitsbühnenbild ist von einer schwarzen Trauerschleife eingerahmt, dahinter staffeln sich die Wände: Eine Puppenbühne aus nüchtern-reizlos gepunktetem Anthrazit mit mehreren Ebenen, alles außer der Trauerschleife deutet auf eine zeitlose Traumwelt, in der nur die Fantasie der Menschen, nicht das Äußere zählt. Die Figuren treten nicht auf, sie fahren wie vom Zufall geleitet auf vorgegebenen runden Bahnen an die Rampe und wieder zurück in die Kulisse.
Barrie Kosky verlegt die Handlung der tragischen Liebesgeschichte komplett ins Innere der Figuren, und zwar jeder einzelnen, jeweils einsamen. Der Brunnen, an welchem Mélisande spielend, aber doch irgendwie von einem unergründlichen Schicksal getrieben, ihren Ehering verlieren wird in der Tiefe, dieser Brunnen ist nirgends zu sehen. Mélisande verschluckt den Ring, die Tiefe des dräuenden Schicksals ist ihr eigener Bauch – es ist eine genialer und doch sehr hemdsärmeliger Kurzschluss von Kosky, den der Symbolismus des Dramatikers Maeterlinck aber gerade noch erlaubt. „Pelléas et Mélisande“ ist ein Stück, in welchem wenig bis nichts an Konflikt direkt ausgesprochen wird, bei Maeterlinck selbst sind Symbole wie der Brunnen, der dunkle Wald, das finstere Schloss und das weite Meer vermeintlich die direktesten Wege in die Herzen der Figuren – am direktesten gezeigt wird noch die Eifersucht von Prinz Golaud, dem Entdecker und Ehemann der feenhaften Mélisande und dem Halbbruder von Pelléas. Seine zerstörerische Obsession ist bei Maeterlinck wie bei Kosky Verletzung und Krankheit. Der bestens disponierte Bariton Günter Papendell, dieser agile Sportlertyp, kommt meistens gekrümmt auf die Bühne, gezeichnet von einem Schicksal, das vor allem er selbst stattfinden lässt.
Diesen verhärmten Golaud kann ein Kosky bestens poltern und rasen lassen, er ist schließlich noch nie der Künstler der großen symbolischen Umschweife gewesen, ihn interessieren das Handeln der Menschen im Augenblick und die psychologischen Folgen dieses Augenblicks. Doch wäre der „Pelléas“ mit seiner schwebenden Indirektheit ansonsten ein unpassendes Stück für diesen Regisseur? Alles andere als das: Zunächst einmal haben sich Intendant und Ensemble mit dem Kanadier Jordan de Souza einen Dirigenten geholt, der mit dem Orchester der Komischen Oper aus dieser angeblichen „Klangpartitur“ plausible dramatische Linien formen kann: Ja, Herr Barenboim, man kann auch in akustisch trockenen Opernsälen Legato musizieren! In Klischees von statisch impressionistischem Klangzauber mit Flöten- und Harfengesäusel verfällt er dabei nie. De Souza ist musikalisch am Fortgang des Dramas interessiert, so sehr es eingebildet sein mag. Kosky seinerseits folgt trotz Verweigerung der großen symbolistischen Décadence-Kulisse wie immer auf denkbar sensible Art dem anvertrauten Musiktheaterwerk und nie einer eingebildeten eigenen Handschrift: Mit der Weigerung, die Psychologie der Figuren ständig in äußeren Symbolen wie dem Brunnen (Seele!), dem Wald (Seele!!) und dem Schloss (Seele!!!) zu suchen, gelangt er ohne szenische Umwege zu den Figuren selbst.
Deshalb ist auch das Unwort vom „Kammerspiel“ hier völlig fehl am Platz. Die Handlung dieses „Pelléas“ spielt im Trauerflor-Rahmen, denn das Land zwischen Traum und Tod, welches sich in der trostlosen Pappkulisse dahinter erstreckt, soll extra weit sein – schon Debussy schien sich hier an das Wort Shakespeares zu erinnern und suchte sich ein besonders kleines Theater, um die Welt zu zeigen. Wenngleich das Französisch von Debussys Original nicht immer lupenrein ist: Kosky hat das resignativ-passive Personal für sein Todestraumspiel akkurat ausgesucht. Sänger Dominik Köninger gibt mit seiner riesigen Gestalt und dem mühelosen Tenor das immer etwas deplatzierte große Kind mit den spleenigen Ideen, die Liebe eines solchen Mannes zur Frau des Bruders kann nur eine kindliche sein. Seine Mélisande Nadja Mchantaf führt Barrie Kosky so, dass einzig sie in diesem Spiel der traurigen Untoten aktiv zu handeln scheint: Es ist nicht wie bei Debussy der Prinz Golaud, der die feenhafte Frau anfangs im Wald findet, sondern sie selbst scheint ihn und die Anderen mit ihren Händen wie traurige Marionetten zum Leben zu erwecken. Wohlgemerkt: mit ihren Händen. Ein Kosky benötigt kein aufgedonnertes Opernhaus mit allen Features der Bühnentechnik zum Theaterzauber. Ihm reichen die Menschen.