Berlin. Die Komische Oper feiert am Sonntag ihr 70-jähriges Bestehen. Nach der Eröffnungsrede von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier präsentiert Intendant und Regisseur Barrie Kosky ein Musical, dass ihm am Herzen liegt. Die Premiere des Schtetl-Musicals „Anatevka“ hat viel mit Koskys eigener Familiengeschichte zu tun.
Herr Kosky, wann haben Sie das erste Mal „Anatevka“ gesehen und was dabei gedacht?
Barrie Kosky: Zuerst habe ich als Kind die Schallplatte meiner Eltern gehört. Alle jüdischen Diaspora-Familien haben eine Platte von „Anatevka“ im Schrank. Den Film habe ich erst mit 11 oder 12 Jahren gesehen und fand ihn damals langweilig. Wenn man die Musical-Theatralik in ein naturalistisches Kinoformat übersetzt, ist es immer heikel. Außerdem war ich nie ein Fan von Topol, der den Tevje spielte. „Anatevka“ habe ich erst mit Anfang 20 auf der Bühne gesehen und verstanden, worum es geht. Für mich ist das Stück sehr persönlich, weil mein Großvater aus einem weißrussischen Schtetl nach Australien ausgewandert ist. Ziemlich genau zu der Zeit, in der das Stück spielt. Auch meine Familie musste ihre Heimat wegen eines Pogroms verlassen.
An der Komischen Oper müssen Sie sich jetzt mit Walter Felsensteins legendärer „Fiedler auf dem Dach“-Inszenierung messen, die von 1971 bis 1988 506 Mal gezeigt wurde und ein Publikumsrenner war. Hat Sie das gekitzelt?
Ich habe seine Inszenierung nie gesehen. Auch keine DVD davon, nur ein paar Fotos. Den Wunsch, „Anatevka“ zu machen, habe ich seit Jahren. Ich habe eine Liste von Musicals, die ich gerne inszenieren möchte. Der Grund, es in dieser Spielzeit zu machen, ist das 70jährige Jubiläum der Komischen Oper. Das Musical gehört zur Geschichte unseres Hauses, es war eine der erfolgreichsten Inszenierungen aller Zeiten. Felsenstein war sehr mutig, denn die Schoa war noch sehr nah. Der Papa im Publikum war noch ein Nazi.
Felsenstein war auch dem DDR-Zwang zwischen den beiden Großmächten unterworfen. Die aus dem Schtetl Vertriebenen wanderten am Ende nicht konkret nach Amerika aus, weil das ja der imperialistische Erzfeind war. Andererseits konnte es im großen Bruderland Sowjetunion keine so schäbigen Russen geben, die blutige Pogrome veranstalteten. Es war also eine politische Weichzeichnung im Spiel. Glauben Sie, jetzt irgendwelchen geopolitischen oder sozialen Zwängen ausgeliefert zu sein?
„Anateva“ gehört zu den Stücken, die, egal wann und wo man sie spielt, Resonanzen auslösen. Gerade auch, wenn man es mitten in Berlin zeigt. Schon die Premiere in den 60er-Jahren in Amerika war etwas Besonderes. Ich glaube, dass Publikum der ersten Jahre bestand mehrheitlich aus jüdischen Emigranten oder deren Kinder. Sie sahen auf der Bühne in Tevje und seiner Familie ihre eigene Geschichte. Aber 2017 ist diese jüdische Geschichte mehr metaphorisch zu sehen. Juden mögen zwar das internationale Copyright für den Begriff Exil haben, aber es ist doch längst ein globales Problem. Wir haben momentan die größten Flüchtlingsströme in der Menschheitsgeschichte. Im Stück geht es um einen Mann, seine Frau und fünf Töchter. Es geht um Tradition und darum, was Heimat bedeutet. Drei Töchter wollen nicht so heiraten, wie Tevje sich das gedacht hat: Die eine will einen anderen Mann, als er wollte. Die zweite will einen Atheisten und politischen Aktivisten und die dritte einen Nicht-Juden. Man könnte „Anatevka“ heute in jedem Land spielen. Auch auf Arabisch.
Wofür steht der Milchmann Tevje?
Er ist einer der Archetypen des 20. Jahrhunderts und gehört in eine Reihe mit Mutter Courage von Brecht oder Wladimir und Estragon aus Becketts „Warten auf Godot“. Man glaubt sie zu kennen, obwohl man ihnen nie begegnet ist. Tevje geht wie Mutter Courage weiter, immer weiter. Aber natürlich ist Tevje auch ein Clown, er redet mit dem Publikum wie ein Stand up Comedian. Und auch mit Gott redet er so. In der jüdischen Tradition ist es einfacher als im Christentum oder im Islam, mit Gott zu reden, obwohl der nie antwortet. Tevje kann auf ihn schimpfen und Witze über ihn machen. Der Milchmann spricht zu Gott und der muss irgendwo im Theater unterm Publikum sitzen. Diese alte talmudische Diskussionskultur ist im 19. und 20. Jahrhundert in die Literatur, ins Theater und den Film eingegangen. Und ich denke, sie hat auch Freud und die Psychoanalyse beeinflusst. Tevje trägt das alles in sich.
Die Hauptrolle besetzen Sie mit Max Hopp, einem Schauspieler?
Ja, er hat nur rund zehn Minuten Gesang in drei Stunden. „Wenn ich einmal reich wär“ ist keine Opernarie. Später hat Tevje noch ein Duett mit seiner Frau Golde zu singen. Aber er hat viel Text zu sprechen. Das kann kein Opernsänger so virtuos hinbekommen wie ein Schauspieler.
Das Bild vom Fiedler auf dem Dach geht auf den Maler Marc Chagall zurück. Wofür steht der Dorfkünstler bei Ihnen?
Im Original steht er für jemanden, der immer Balance halten muss. Wir brauchen keine Chagall-Figur, die als Silhouette auf dem Dach steht. Bei der Uraufführung hat man viel Chagall verwendet, aber wir gehen in der Bildsprache in eine andere Richtung. Bei uns wird der Fiedler von einem Jungen gespielt. Mehr will ich nicht verraten.
Das Schtetl Anatevka ist eine Fiktion, die ins Jahr 1905 führen soll. Die reale Schtetl-Welt ist im Holocaust untergegangen.
Ja, aber ich glaube, es gibt noch heute so etwas wie den Schtetl-Geist. Die chassidische Gemeinde in Brooklyn ist ein selbstgemachtes Schtetl. Man geht durch die Straßen und fühlt sich im 18. Jahrhundert trotz des Autoverkehrs. Auch ein Teil von Israels Gedankenwelt ist ein Schtetl. Der Geist wird von den Kindern und Enkeln weitergetragen. Auch ich trage den Geist in mir, obwohl ich das Schtetl meines Großvaters nie besucht habe. Es gibt heute eine gewisse Schtetl-Nostalgie, aber das Leben war eigentlich furchtbar. Meine Familie war sehr froh, weg zu sein.
„Anatevka“ ist eine traurige und zugleich lustige Geschichte. Was soll das Berliner Publikum aus Ihrer Inszenierung mitnehmen?
Es soll ein reiches, emotionales Abenteuer sein. Man soll lachen und weinen können. Mir ist es sehr wichtig, dass das Publikum lebende Juden auf der Bühne zu sehen bekommt. Denn leider nimmt das Publikum ansonsten in Literatur, Film und Fernsehen vor allem zwei jüdische Typen wahr. Entweder sind es Schoa-Juden oder israelische Soldaten, die auf Palästinenser einschlagen. Juden werden zuerst mit Konzentrationslagern und mit Gaza verbunden. Das Musical zeigt jetzt Menschen wie du und ich. Ich möchte, dass das Publikum spürt, dass die Familie auf der Bühne wie ihre eigene ist.