Der Regisseur hat überhaupt keine Probleme damit, mal schnell eine Waffe in die Hand zu nehmen und sich in seinem heutigen Bühnenbild fotografieren zu lassen. Ist ja alles nur Theater, selbst wenn es sich um eine Barockoper wie Jean-Philippe Rameaus „Zoroastre“ handelt. Die wird bei Tobias Kratzer zu einem handfesten Nachbarschaftsstreit umgedeutet. Am Sonntag ist die Premiere in der Komischen Oper, es ist sein Berliner Debüt. „Ich hoffe doch, dass die Inszenierung insgesamt nicht kleinbürgerlich und kein reiner Blick über den Gartenzaun wird“, sagt er: „Wir versuchen den Konflikt dort abzuholen, wo viele Konflikte beginnen. Große Kriege beginnen oft im Nachbargarten.“
Der schnell sprechende Münchner, der auch in Berlin eine Wohnung hat und regelmäßig in der Stadt ist, gehört zu den Opernregisseuren, die offenbar vor keinem Theaterspaß zurückschrecken. Auf fast bizarre Art hat seine Karriere auch 2008 begonnen. Gemeinsam mit seinem Bühnenbildner Rainer Sellmaier, der auch den Kleingartenkrieg an der Komischen Oper einrichtet, hatte er sich beim Internationalen Regiewettbewerb „ring.award“ in Graz angemeldet. „Aber wir hatten so viele Ideen und fanden den Wettbewerb auch absurd, schließlich entscheiden sich Konzepte auf dem Rasen und nicht auf dem Papier. Wir haben Metaperformances daraus gemacht.“ Kurz und gut, sie meldeten sich mit zwei Identitäten und Konzepten an. Die Amerikanerin Ginger Holiday auf der einen Seite und Nedko Morakov von einem osteuropäischen Künstlerkollektiv auf der anderen Seite traten gegeneinander an.
Mit zottligen Haaren und angeklebtem Schnurrbart
„Wir haben viel gelernt dabei“, sagt Kratzer: „Innerhalb von 20 Minuten bin ich zweimal vom selben Fernsehteam interviewt worden. Die selektive Wahrnehmung ist schon bemerkenswert. Es ist keinem aufgefallen, obwohl ich kein begnadeter Stimmenimitator bin.“ Man käme mit Verkleidungen erschreckend weit durch, sagt er.
Der Hauptmann von Köpenick und Mozarts „Così fan tutte“ seien glaubhafte Konstellationen. „Es gab Leute im Saal, die waren felsenfest davon überzeugt, dass ich mit osteuropäischem Akzent gesprochen hätte. Habe ich aber nicht. Man hat sich an den zottligen Haaren und dem aufgeklebten Schnurrbart orientiert.“
Für ihre Aktion hatten sie eigens eine konspirative Wohnung angemietet. „Zwischen den Vorträgen sind wir in die Wohnung und haben uns umgezogen. Es war ein starker logistischer Aufwand.“ Sie hatten zwei Autos und sich passende Biografien zurechtgelegt. Ginger hatte etwa ein Praktikum im Management von Liz Taylor absolviert. Beide Konzepte wurden mit Preisen überhäuft. „Ginger Holiday hat mehr Preise gewonnen als das Kollektiv, das kam dann aber ins Finale“, sagt Tobias Kratzer. Im Halbfinale war dann doch alles aufgeflogen. Es gab in der Jury kurz die Diskussion, ob sie disqualifiziert werden. Aber es ging weiter. „Weil es Theaterleute sind, die in der Jury sitzen. Und unsere Konzepte hatten auch genug Substanz in sich.“ Am Ende gewann Tobias Kratzer den Wettbewerb. „Fies war es wohl eher für die Konkurrenz“, fügt er noch dazu. Danach kamen die Einladungen an die Opernhäuser.
2019 wird er in Bayreuth den nächsten „Tannhäuser“ inszenieren
Performances habe er seither nie mehr gemacht. Sagt er jedenfalls. Längst ist er auch ein international gefragter Opernregisseur. Nach der Berliner Premiere zieht er weiter nach Karlsruhe, wo der Wagners „Götterdämmerung“ vorbereitet. 2019 wird er in Bayreuth den nächsten „Tannhäuser“ inszenieren. Tobias Kratzer, 1980 in Landshut geboren, wird immer wieder als großes Talent seiner Generation bezeichnet. Seine Generation, das sind längst gestandene Regisseure, aber den Bonus wird er nicht mehr los. „Sebastian Baumgarten hat mal gesagt, man sei mit 50 noch Jungregisseur. In anderen Berufen wäre man dankbar, mit Mitte 30 noch den Jugendbonus zu haben. Ich freue mich darüber.“
Immerhin erklärt sich mit dem Generationswechsel manche Leichtigkeit in seiner Regiesicht. „Mit dem alten Opernmuff haben wir ja nicht mehr zu kämpfen“, sagt Kratzer: „Die kritische Befragung von Stücken ist längst das gängige Mittel der Opernregie. Die Anti-Haltung ist nicht mehr zwingend, wir müssen uns nicht mehr ästhetisch gegen eine Generation durchsetzen.“ Das eröffne eine ganz andere Freiheit im Umgang mit den Opern. Die Stoffe könnten immer wieder neu befragt werden. „Die großen Grundkränkungen, dass wir irgendwann sterben müssen oder dass wir nicht in den Kopf eines anderen hineinsehen können, sind immer präsent“, sagt er: „Das sind dramatische Fragen, die mit großen gesellschaftlichen Zuständen korrespondieren. Es arbeitet sich aber nicht an tagespolitischen Dingen ab. Ich habe den Anspruch, dass ein Stück mir das Thema diktiert und nicht ich einem Stück mein Thema aufdrücke.“
Zu der Barockoper sei er gekommen, weil ihm Intendant Barrie Kosky sehr genau erzählen konnte, warum er „der richtige Mann für das Stück“ ist. „Man bekommt ja oft Stücke angeboten, die nicht direkt etwas mit einem zu tun haben. Manchmal ist auch einfach nur ein Kollege abgesprungen. In diesem Fall war das anders“, sagt Kratzer, „obwohl ich vorher noch nicht einmal etwas von der Existenz des Stückes wusste. Aber es ist etwas sehr Schönes, wenn einem ein neuer Repertoireschwerpunkt eröffnet wird.“
Komische Oper, Behrenstraße 55–57, Mitte. Termine: 18. Juni (Premiere), 24., 28. Juni
und 6., 8. und 14. Juli