Es hat sich ausgefratzt und ausgeschmitzt“, ruft uns Johannes Grützke munter entgegen, als wir sein Atelier betreten. Herrlich, diese Wortschöpfungen. Gott sei Dank hält er es nicht durch und macht Fratzen, lässt sich dabei gerne fotografieren. Zieht Grimassen, Mund wie ein Halbmond, Augen rund wie Kugeln, so als würde er sein Gesicht mit Knetmasse überformen. Lacht mit offenem Mund, das fratzt noch mehr – wir erkennen in seinem Gesicht den Stil seiner Porträts, die Grenzen zur Karikatur sind bei ihm ja fließend.
Der Urberliner ist der Stadt treu geblieben
Johannes Grützke, Urberliner, ist Deutschlands lässigster, gnadenlosester Figurenmaler, und das sind bei ihm vor allem Frauen, üppige Frauen mit ganz viel Fleisch, dicke Hintern, große Brüste, ausladende Hüften. Nicht jedermanns Geschmack, egal, Grützke liebt Falten, diese bleichen Falten, besonders der „Hüftwulst“ hat es ihm angetan. Ein Leib-Dramatiker. Schon setzt sich Grützke auf einen Stuhl, dreht die Schulter und irgendwie sein Becken und erklärt, dass in dieser Position die allerbesten Wülste entstünden. Wir können da gar nichts sehen, aber schließlich ist Grützke auch nicht nackt, sondern wie immer ein weißer Mann, weißes T-Shirt, weiße Hose („gerade gewaschen“) und sehr schlank dazu.
Was die Modelle betrifft, akzeptiert er alles, dick, dünn, er „spielt ja nicht den Herrgott“. Ein Lieblingsmodell hat er, die „rosahellbraune Tönung“ ihrer Haut gefällt ihm sehr. Er erinnert sich noch gut an seine erste Akt-Lady, er annoncierte damals in der Berliner Morgenpost, 70er-Jahre, er suchte eine „Dame zwischen 40 und 50“, die sollte zur „Vervollkommnung ihrer Gestalt schon geboren haben“, so etwa schrieb der Künstler, der heute 78 Jahre ist. Der Begriff Modell sei damals zweideutig gewesen, erzählt er, verbunden mit dem Rotlichtmilieu. Jedenfalls klingelte eine Frau im Studio an der Güntzelstrasse, ein „bisserl pucklig“, und er vermutete, dass sie sich etwas anderes vorgestellt hatte. Als ihr Mann aus der Kur zurückkehrte, kam sie nicht mehr, und Grützke schuldet ihr bis heute 45 Mark fürs Aktmalen.
Sein Atelier ist ein eigener Kosmos, 1968 zog er hier ein. Es ist vollgestopft mit ausgestopftem Federvieh, eine verstaubte Gans, eine Eule. Vieles ist vom Trödel wie die schwarze Friseurhaube auf Rollen, sie trocknet nicht mehr, gibt stattdessen mobiles Licht. Alles „weggekratzt“, er meint seine Bilder, sie wurden längst abgeholt für die neue Ausstellung in der Villa Schöningen, und auch in Essen gab es eine Schau. Auf einer der vier Staffeln steht ein Familienbildnis, gerade fertig geworden. Grützke mit seiner jüngeren Frau, einer Pariserin, und den zwei Töchtern, elf und 13 Jahre, nackt in einem Schlauchboot. Hat einige Zeit gebraucht, die Kinder hätten keine Lust gehabt, ihrem Vater Modell zu sitzen.
Mit Humor fürs Absurde und Anarchische
Wo denn der rote Faden in der Schau der Villa Schöningen sei, hat ihn neulich jemand gefragt. Komische Frage, hat er gedacht, nackte Frauen, hat er geantwortet. Na ja, ein kleines Selbstbildnis von 1959 ist dabei. Man kann es sich gut vorstellen, der schlanke, junge Mann zwischen den großen, prallen, nackten Weibern. Dazu der Kontrast zur klassizistischen Architektur des Hauses und zu dem Blick auf das preußische Arkadien. Auf dem Bildnis zeigt er nackten Oberkörper, etwas unbeholfen wirke das, meint er, „dafür voller Unschuld“.
Damals hätte er mit dem Pinsel gekämpft, um sich freizumalen von den Vorgaben der Moderne. Da ist er wieder, sein eigenwilliger Humor fürs Absurde und Anarchische. „Es geht nicht um Kunst“, sagt er, „sondern um das Leben. Der Kunstwille ist verderblich.“ Mag sein, dass das alles mit seinem Einzelgängertum zu tun hat. Seine Nische im Betrieb ist längst seine Komfortzone. Vom „Szene-Kunstbetrieb“, er meint damit die Liga von Georg Baselitz, fühle er sich „geschnitten“, Markus Lüpertz hingegen hat er „lieb“, der drücke ordentlich auf die Tube und sei „durchdrungen von seiner Malerei“.
Im Flur stapeln sich Kisten mit Katalogen, die gehen nach Nürnberg, dem Archiv des Germanischen Nationalmuseums hat er einen „Vorlass“ vermacht, in der dortigen Akademie unterrichtete er zehn Jahre. In Berlin interessiert sich keiner für seine Materialien, er ist kein Mitglied der Akademie der Künste, obwohl ihn Hochhuth und Zadek schon einmal vorgeschlagen hätten. „Ich passe da wohl nicht hinein“, meint er.
Überall hängen Spiegel in seinem Atelier. Er schaut sich gerne an
Überall im Atelier gibt es Spiegel, 20 sind es wohl, über der Eingangstür hängt einer, über dem Schreibtisch, da glotzt ein Pavian hinein, der irgendwie verdreht aussieht, als mache er gerade Yoga für Affen. „Ich gucke mich gerne im Spiegel an!“ Er ist sich selbst liebstes Modell. Früher als Kind flüchtete Klein-Grützke oft ins Klo, da gab es den am besten beleuchteten Spiegel, davor zeichnete er sich.
Grützkes Bilder sind nicht billig, mit Millionenpreisen, wie die „Hechte“ sie haben – er meint Gerhard Richter –, nimmt er es nicht auf. Er greift zum Bleistift, nimmt einen alten Umschlag, multipliziert darauf Höhe und Breite des Familienbildes, multipliziert die Zahlen wiederum mit einer Zahl, die sagt er aber nicht. Daraus ergibt sich die Summe für das Bild: knapp 17.000, wenn er verkaufen würde. Macht er aber nicht.
Villa Schöningen, Berliner Straße 86. 14467 Potsdam. Ab 25. März 2016. Do–So 10–18 Uhr. Bis 19. Juni 2016