In der Kirche ist es kalt. Das ist gut. Christine Goetz schätzt es, wenn Kirchenräume nicht geheizt werden. Sie wurden ja schließlich nicht mit Heizungen gebaut. Die Kühle passt auch zu den lichtblauen Wänden in St. Augustinus, wo wir uns an diesem Vormittag treffen.
Es ist ein beeindruckend klarer Raum, das Rotbraun der Blendarkaden gibt den Wänden Struktur, im Kontrast dazu steht das Schwarz des Marmors am Hochaltar, in den Ecken leuchten goldene Nischen. „Nach Befund“ sei das alles 2006 restauriert worden, sagt Christine Goetz zufrieden. Nach Befund und nach ihren Ratschlägen.
St. Augustinus hat es zum Cover-Girl von „Das Sichtbare und das Unsichtbare“ geschafft. In dem Buch präsentiert die Kunsthistorikerin Goetz ein, wie sie es sagt „Best of“ ihrer Arbeit. Mitte der 90er-Jahre hat sie ihre Inventur-Reise durch das Erzbistum begonnen.
Späte Blüte für das katholische Berlin
Sie war in Rathenow, in Kyritz, in Stralsund, in Perleberg, in Schwedt und natürlich viel in Berlin selbst unterwegs. Sie hat die Kirchen und Kapellen des Erzbistums durchforstet und Listen gemacht. Welche Kunstschätze verbergen sich in den Sakristeien, in den Altarräumen, an den Fassaden? Welche Künstler und Architekten haben Räume und Ausstattung geschaffen?
Gegliedert ist das Buch in die Kapitel liturgische Räume und Altäre, Skulpturen, Gemälde, Glas und Mosaik, und Umbauten. Sie muss ein unglaubliches Wissen haben, um das alles genau beschreiben und datieren zu können. „Habe ich auch“, sagt Goetz und lächelt.
Erstmal mit Skepsis begrüßt
In vielen Gemeinden habe man sie erst mal mit Skepsis begrüßt, erzählt Christine Goetz. Was soll in einer Diaspora wie Berlin schon an Schätzen zu finden sein? Köln ist für seine romanischen Kirchen berühmt, die Bistümer im Süden für den Barock. Aber in Berlin? „Bei uns gibt es gar nichts“, habe man ihr erklärt.
Aber dass das überhaupt nicht stimmt, das belegen die zahlreichen Fotografien von Constantin Beyer und die genauen Beschreibungen von Christine Goetz in dem jetzt im Kunstverlag Josef Fink erschienenen Band. Begonnen hat Goetz ihre Arbeit mit einem Werkvertrag über fünf Jahre. Das Bistum selbst glaubte anscheinend nicht so recht an seine Schätze. Am Ende sind 20 Jahre draus geworden.
Erster Anschub durch das Kaiserreich
Natürlich hat die Reformation die katholische Kirche in der Region viel gekostet. Gotische Schönheiten, mittelalterliche Kostbarkeiten, die finden sich, wenn überhaupt, doch eher im Besitz der Protestanten. Bis Mitte des 19. Jahrhunderts war St. Hedwig, 1773 geweiht, die einzige katholische Kirche in Berlin.
Erst als das Kaiserreich mit zahlreichen Zuwanderern auch immer mehr Katholiken anlockte, entstanden die ersten aufwändigen Sakralbauten mit besonderer Ausstattung für ihre Gottesdienste.
Aber vielleicht hat das katholische Berlin gerade durch die späte Blüte etwas gewonnen. Eine Konzentration auf eine bestimmte Zeit. Wie, das lässt sich wunderbar sehen am Beispiel von St. Augustinus. Mitte der 20er-Jahre begann der Bau, also zur Zeit des Expressionismus. „Katholische Avantgarde“, so nennt Goetz den kühnen Entwurf des Architekten Josef Bachem.
Fakten statt Anekdoten
Der Legende nach, die man sich hier in der Gemeinde gern erzählt, sei der Erzbischof in Breslau entsetzt gewesen vom Stil dieser Kirche, und außerdem erbost, was die Berliner, die damals noch zu seinem Bistum gehörten, sich da trauten. Er habe sich zur Kirchenweihe 1928 geweigert, aus Breslau anzureisen. Der Weihbischof habe die Weihe übernehmen müssen. Zwei Jahre später wurde Berlin selbstständig.
Diese oder andere Geschichten sucht man vergeblich in Goetz’ Band. „Ich habe mir angewöhnt, nur das wesentliche mitzuteilen“, erklärt die Autorin. Schon als Kirchenführerin durch Berlins Sakralbauten habe sie vor allem Wert darauf gelegt, „das Sehen zu lehren“. „Anekdoten erzähle ich nur, wenn es keine sind.“
Will heißen: Nur die Fakten zählen für sie. So hat sie sich auch sehr dafür eingesetzt, dass eine der meistgehüteten Legenden der Diaspora aufgeklärt wird. Die Berliner Katholiken behaupten nämlich gern, die Preußische Bauordnung habe ihrer Konfession verboten, freistehende Kirchen zu bauen.
Nur die Protestanten hätten Platzkirchen haben dürfen. „Ach was“, winkt Goetz ab. „Ab einem bestimmten Zeitpunkt gab es im wilhelminischen Bauboom eben keine freien Plätze mehr. Die Gründe liegen im Bebauungsplan von Hobrecht.“ Und der galt für alle.
Wer kennt schon den Preis für ein Altarbild
Expressionismus, Bauhaus – die wichtigsten architektonischen Stile des 20. Jahrhunderts sind in den Kirchen des Erzbistums Berlin wiederzufinden. Wilhelm Zwo hatte seinen Einfluss. Die Erfahrung der Kriege, von Tod und Zerstörung hat ihren Stil geprägt. Aber auch die Befreiung von patriotischem Zwang zum Heldentum und zur Großtuerei.
Je gewagter der Entwurf, desto größer die Kritik daran. „Maggiwürfel“, so habe man beispielsweise den modernen Bau von St. Martin in Kaulsdorf genannt. Zum Skandal aber habe vor allem der über dem Altar hängende Gekreuzigte des Bildhauers Hans Perathoner geführt. Der sorgte allein schon durch seine Dimension für Aufsehen.
Ein ratloser Gott auf dem Sockel
Ebenso findet sich in diesem Buch der Gekreuzigte der Jesuitenkirche St. Canisius im Charlottenburg. 1995 brannte die Kirche ab, Feuer und Löschwasser hinterließen deutliche Spuren auf der von Gerhart Schreiter geschaffenen Figur. Und doch blieb sie über dem Altar hängen. Die Gemeinde bekam einen neuen Bau. Aber an dem Gekreuzigten hielt man fest.
Als These könnte man nach dem Studium dieses Buches wagen: Das Bild, das die katholische Kirche in ihren Bauten und Kunstwerken von sich selber gibt, ist, bedingt durch die Zeit ihrer Entstehung, in Berlin so deutlich bescheidener als in anderen Erzbistümern.
In St. Michael in Kreuzberg beispielsweise findet sich der von Carl Blümel 1921 geschaffene „Jesus in der Rast“, ein etwas ratlos scheinender Gott, der krumm gebückt auf seinem Sockel kauert.
Beschreibungen sind bewusst knapp gehalten
Die von Christine Goetz gemachte Inventur hat allerdings nicht den materiellen Wert der Kunstgegenstände und Bauten mit aufgenommen. „Wer kennt schon den Preis einer alten Monstranz oder eines Altarbildes“, sagt Goetz. Darum ginge es ja auch gar nicht. „Meine Aufgabe war, das kulturelle Gedächtnis der Ortskirche zu erstellen.“
Die Beschreibungen und Abbildungen in „Das Sichtbare und das Unsichtbare“ sind bewusst knapp gehalten. Mehr als das Buch zuhause zu lesen sollte man es also lieber in die Hand nehmen und damit auf eine Reise durch das Erzbistum und seine Kirchen gehen. Es müssen ja nicht gleich 20 Jahre draus werden.
Christine Goetz, Constantin Beyer: Das Sichtbare und das Unsichtbare. Kunst und Kirche im Erzbistum Berlin. Kunstverlag Josef Fink, 176 S., 14,80 Euro