Judith Hermann ist ein nachdenklicher Typ. Sie strahlt Ruhe aus, Gelassenheit. Die kann sie sich als eine der erfolgreichsten Schriftstellerinnen ihrer Generation, die sich mit Erzählungen hervortat, auch leisten. Am heutigen Donnerstag erscheint ihr erster Roman „Aller Liebe Anfang“, in dem ein Fremder das Leben eines Ehepaares und seiner kleinen Tochter durcheinanderbringt. Das Gespräch findet in der Berliner Dependance des Fischer Verlags statt. Ab und zu lächelt sie, es ist dieses viel gerühmte, einnehmende Judith-Hermann-Lächeln.
Berliner Morgenpost: Ihr Romanerstling erzählt von einer jungen Frau, die von einem Stalker belästigt wird. Die Frage nach eigenen Erfahrungen liegt nahe?
Judith Hermann: Für mich ist „Aller Liebe Anfang“ kein Buch über eine Frau, die von einem Stalker belästigt wird. Es ist eher eine Reflexion über die Liebe, über Obsessionen und Projektionen, über das Festhalten an einer fixen Idee. Und man kann das sehr weit dehnen.
Ist Stalking vielleicht nur eine Spielform einer verrückten Art von Liebe? Ist aller Liebe Anfang der Wahnsinn?
Wenn man es sehr auf die Spitze treiben will, kann man das schon so sagen: Der Anfang aller Liebe ist die wahnhafte Wahrnehmung des anderen. Manchmal erfüllt sie sich, und der andere entspricht aller Erwartung. Und manchmal erfüllt sie sich nicht, und die Erwartung, die Projektion gehen ins Leere. Dann findet vielleicht gar nichts statt – oder eben etwas anderes, etwas Seltsames, so wie in „Aller Liebe Anfang“.
Was steht am Anfang aller Liebe?
Ich glaube, die Bereitschaft, sich überhaupt auf eine mögliche Projektion einzulassen. Bevor man jemanden auf eine solche Weise ansehen kann, muss es dafür eine Bereitschaft geben, so etwas wie ein leeres weißes Blatt Papier, das man füllen will. Bereitschaft klingt unromantisch, sachlich, trotzdem ist es die Bereitschaft zur Selbstaufgabe.
Was den Stalker im Roman betrifft: Läuft jeder aussichtslos Liebende Gefahr, zum Psychopathen zu werden?
Jedenfalls liegt das im Bereich des Möglichen. Und wir könnten uns fragen, warum das nicht viel häufiger passiert. Wodurch wird das denn eigentlich gebändigt? Welche Maßnahmen haben wir uns auferlegt und in welchen Konstruktionen leben wir, dass alle Grenzerfahrung rechtzeitig aufgefangen oder begradigt wird. Beruhigt wird. Offenbar kommunizieren wir miteinander, wir drücken uns aus, wir erzählen von uns. Die Leute in meinem Buch sprechen ja nicht allzu viel, insbesondere der Stalker hat anscheinend ein großes Bedürfnis, nicht aber die Fähigkeit zum Gespräch.
Und irgendwann dreht er durch, er wirft sich gegen die Tür seiner Angebeteten, die Angst vor ihm hat. Trotzdem zeichnen Sie Mister Pfister, den Stalker, nicht als Täter oder böse Figur?
Ja. Mich hat jemand gefragt, ob ich beim Schreiben Mitleid mit der Figur der Stella gehabt hätte, und ich dachte zunächst, die Frage würde auf Mitleid mit der Figur Mister Pfisters hinauslaufen. Mitleid mit Mister Pfister habe ich nämlich gehabt. Aber Mitleid mit Stella? Nein. Kein Mitleid, auch wenn sie die belästigte Person ist. Stella ist autonom, sie hat auch eine möglicherweise etwas autistische Art des Selbstschutzes. Mister Pfister ist sich selbst völlig ausgeliefert, und ich muss mich in alle beide einfühlen können, sonst könnte ich sie gar nicht erzählen.
Irgendwann fragt man sich, ob Pfister wirklich real ist oder nur eine Fantasie.
Es ist ein gutes Beispiel dafür, wie einem beim Schreiben die bewusste Führung abhanden kommen kann. Viele Sachen macht man bewusst, aber manche eben auch nicht. Erst Wochen, nachdem der Text abgeschlossen war, habe ich gedacht – vielleicht gibt es Mister Pfister gar nicht. Vielleicht ist Mister Pfister Stellas Projektion, ihre eigene Wahnvorstellung, es gibt im Text dieses Wort vom Fabelwesen.
Nur sollte man bei Pfister nicht an die Geschwister Pfister, die Berliner Musikkabarettisten, denken?
Nein, sollte man nicht. Mister Pfister soll ein Name sein, der abweicht, ein anormaler Name, kein alltäglicher wie die Namen aller anderen. Und ein bisschen steht er jetzt auch für die Idee, dass es ihn gar nicht gibt. Es ist der Name einer Comicfigur, ein Humpty Dumpty.
Stellas Partner Jason rastet am Ende aus und schlägt Mister Pfister den Schädel ein.
Ich merke im Nachhinein, dass ich viele kleine Dinge unterbringen konnte, die mir wichtig waren – Gegenstände, Kinderbücher, Pflanzen, rätselhafte Sätze, die einer zum anderen sagen kann –, dass ich aber auch mit noch mehr offenen Fragen aus dem Text gegangen bin, als ich sie vorher schon hatte. Die Motivation dieser Schädelzertrümmerungsszene ist so eine offene Frage.
War „Aller Liebe Anfang“ eigentlich von vornherein als Roman geplant?
Ich habe mich lange an einer Erzählung versucht. Aber ich hatte deutlich das Gefühl, dass ich etwas verschenke, dass es zu viel gibt, was mich interessiert, was ich eigentlich festhalten wollte.
Sie gingen also vom Stoff aus und haben nicht gedacht, jetzt ist nach den vielen Erzählungen mal ein Roman dran?
Nein, das habe ich in keiner Weise gedacht. Es gibt diesen schönen, oft zitierten Satz von Katja Lange-Müller, nicht der Autor entscheidet über die Länge eines Textes, sondern der Text. In „Alice“ habe ich mir die Form der Erzählung nicht ausgesucht, der Text hat sie selbst entschieden. Der Text „Aller Liebe Anfang“ hat sich gegen die Streichholzschachtel, in die er eingezwängt war, deutlich gewehrt.
Judith Hermann: Aller Liebe Anfang. S. Fischer, 219 S., 19,99 Euro.