Verdreckte Fliesen, muffiger Sperrmüll - und ein schwuler Entertainer, der das KZ überlebt hat. Das ist der Stoff für „Der helle Wahnsinn“ - eine schrille Revue, die die Lust am Leben zelebriert.

Peter E. Müller

Ein schwuler Entertainer, der das KZ im Nazi-Deutschland überlebt hat, landet nach dem Zweiten Weltkrieg in einem verranzten Irrenhaus am Rande von Berlin. Und hat in all seiner ungebrochenen Lebenslust nichts Besseres zu tun, als mit den von Psychosen und Neurosen, von Schizophrenie und Depression gepeinigten Insassen dieser verkommenen Verwahranstalt eine Revue auf die Beine zu stellen. Das klingt nicht unbedingt nach dem Stoff, aus dem Varietéträume gemacht sind. Doch genau darum geht es in der neuen Show „Der helle Wahnsinn“ im Wintergarten, die am Donnerstagabend ihre Premiere erlebte.

So etwas hat man in dem Traditionshaus an der Potsdamer Straße noch nicht erlebt. Keine artistische Nummernrevue diesmal, die von einem lockeren roten Faden zusammengehalten wird. Keine großen Gesten und prächtigen Kostüme vor schillerndem Hintergrund. Kein Glanz, kein Glamour. Überhaupt keine klassische Varietéleichtigkeit. Stattdessen ein opulentes Bühnenbild voll schäbiger Tristesse. Schmuddelig gepolsterte oder gleich ganz kahle Wände, Pritschen, die als Schlafstatt und später auch als Laufsteg dienen, verdreckte Fliesen, muffiger Sperrmüll, verklebte Fenster, schiefe Treppen, rostige Gitter und lethargische Patienten in Zwangsjacken und Wickelverbänden. Ein neonschales, kaltes Grau in Grau. Und unter dem Siegmud-Freud-Bild an der Büro-Wand hängt immer noch ein Hitler-Konterfei.

„Einer flog übers Kuckucksnest“ mit Musik und Happy End

In diesem Elendsszenario also landet Herbert Maria Freiherr von Heymann (Jack Woodhead), ein schriller Paradiesvogel von tuntiger Eleganz, ein Freigeist, der sich seinen Überlebenswillen und seinen bitterbösen Humor auch in schlimmsten Zeiten bewahrt hat. Und er trifft auf verzweifelte, absonderliche und höchst faszinierende Gestalten, deren verschüttete Gefühle und verborgene Talente er mit überwältigendem Charme und stoischer Ausdauer an die Oberfläche zerrt. Dieser tragikomische Wahnsinn hat Methode. Dieser Drahtseilakt vor dem düstersten Kapitel deutscher Geschichte funktioniert. Wie schon Musicals von „Cabaret“ bis „The Producers“ funktioniert haben.

„Der helle Wahnsinn“ ist Musical, Theater und Revue zugleich. Eine Art „Einer flog übers Kuckucksnest“ mit Musik und Happy End. Varieté-Erneuerer Markus Pabst hat die krude Geschichte ausgeheckt und inszeniert. Und hat auch gemeinsam mit seinen Hauptdarstellern Jack Woodhead und David Pereira an Songs und Texten mitgearbeitet. Kein einfaches Unternehmen. Denn hier werden Artisten und Akrobaten zu Schauspielern. Was eine gewisse Überdrehtheit zur Folge hat. Matthias Fischer, die eine Hälfte des Comedy-Artisten-Gespanns Collins Brothers beispielsweise, spielt den herrischen Anstaltsleiter Stock als überzogene Karikatur, deren Exaltiertheit schwer zu ertragen ist.

Von Rummelsnuff bis Steptanz-Duell

Doch macht das großartige Ensemble alles wieder wett. Alle Anstaltsinsassen lungern ständig auf der Bühne herum, bestaunen die ungeahnten Fähigkeiten ihrer Leidensgenossen. Da ist die phänomenale Somalso (Sarah Bowden), ein schizophrenes Mädchen, das mal „Lilli Marleen“ persifliert, sich dann wieder zu einem exzentrischen Burlesque-Strip hinreißen lässt. Eine Vollblut-Entertainerin. Da ist Karl das Messer (Florian Zumkehr), ein mutmaßlicher Serienkiller in Zwangsjacke, der Kraftakte auf Händen vollführt und im Salto durch Reifen fliegt. Da ist Hans die Woge (Rummelsnuff), ein Kapitän mit Hang zu Seemannsliedern und ein Muskelprotz zum Liebhaben. Oder das Mädchen, das auf den seltsamen Namen Fuß zum Gruß (Nata Galkina) hört, und das Jonglage-Wunder mit ihren Füßen vollbringt.

Und da ist Punka Rosa (David Pereira), ein Zigeunerjunge aus einem fahrenden Zirkus, der in Frauenkleidern steckt. Und nur deshalb den Zweiten Weltkrieg überlebt hat. Er ist ganz in sich gekehrt. Er vermeidet jeden Kontakt. Er spricht nicht. Doch Heymann, der sich natürlich sofort in ihn verguckt hat, holt den femininen Jungen heraus aus seiner Lethargie. Die tänzerische Körperkunst, mit der David Pereira über die Bühne schwebt und wirbelt, sorgt für steten Zwischenapplaus. Denn längst hat sich das anfangs durchaus etwas skeptische Publikum überzeugen lassen von den Qualitäten dieser so unkonventionellen Show, die mit all ihren kleinen Provokationen an das Miteinander und an die Menschlichkeit appelliert.

Zu einem Höhepunkt des Abends wird der Auftritt der 69-jährigen Artistin Doris Marxheimer, die am langen Tuch in waghalsiger Anmut begeistert. Wie ein schwarzgeflügelter Engel schwebt sie in luftiger Höhe und wird von bewunderndem Applaus auf Händen getragen. Und da ist Sarotti (Angel Caycedo), der als Kind Schmähsprüche wie „Neger, Neger, Schornsteinfeger“ über sich ergehen lassen musste und nun am Schlappseil zu energetischer Hochform aufläuft, während Sarah Bowden und Robin Poell ein furios swingendes Steptanz-Duell an der Bühnenrampe austragen. Schon zuvor hatte Poell perkussive Kraftakte mit den Füßen in den Boden gestampft.

Imposanter Sound von gerade mal vier Musikern

Nach der Pause kommt es, wie es kommen muss. Die Show steht, ein amerikanischer Showmogul will die Truppe engagieren, reist aber nur mit dem Anstaltspersonal zurück ins Land der unbegrenzten Möglichkeiten. Die Insassen sind Nese. Aber sie sind frei. Und überschwemmen mit ihrem überbordenden Talent die langsam wieder auf Touren kommende Metropole Berlin. Die Songs sind teils auf Deutsch, meist auf Englisch. Jack Woodhead singt „The Man In the Moon Is A Lady“ und konstatiert im Lied vom Regenbogen: „Berlin will always be free“. Die Musik ist eine großartige Melange aus 20er-Jahre-Swing, Cabaret-Songs, Jazz, Blues, Zirkus und Tingeltangel.

Es ist imposant, was die gerade mal vier Musiker da für einen Sound erschaffen. Vor allem Cellistin und Sängerin Ashia Grzesik als strenge Schwester Hildegard nimmt mit ihrer kraftvoll wandelbaren Stimme gefangen. „Der helle Wahnsinn“ ist zeitgemäßes Varieté-Entertainment auf höchstem Niveau. Impulsiv und bewegend, ungezähmt und hemmungslos, provokant und gespickt mit immer neuen Überraschungen und Glanzleistungen. Eine schrille Revue, die die Lust am Leben zelebriert. Der Premierenapplaus ist herzlich und langanhaltend. Ein großer Wurf.