Der Rausch der Revolution ist verflogen. Ernüchterung macht sich auf brutale Weise breit, statt der Freiheit erwartet viele Umstürzler ein Gefängnis der Ideologie. Einzelschicksale zählen nichts. Und gerade auf diese richtete Heiner Müller in seinem Stück „Zement“ 1972 über die russische Revolution den Blick. Etwa auf den Bürgerkriegsheimkehrer Gleb Tschumalov. Der findet seine Zementfabrik zerstört vor. Seine Frau Dascha hat sich in eine verbissene Parteifunktionärin verwandelt, die von ihrem Mann nichts mehr wissen will.
Mit großartigen Darstellern wie Bibiana Beglau, Sebastian Blomberg oder Valery Tscheplanowa inszenierte Dimiter Gotscheff „Zement“ am Münchner Residenztheater. Es war die letzte Arbeit des großen Regisseurs, er verstarb ein halbes Jahr nach der Premiere.
Hommage an Dimiter Gotscheff
„Zement“ eröffnet am 2. Mai das 51. Berliner Theatertreffen. Im Rahmen des Festivals ehren die Berliner Festspiele den aus Bulgarien stammenden Theatermann zudem mit einem „Focus Gotscheff“, bei dem auch weitere Inszenierungen des Regisseurs präsentiert werden – am Deutschen Theater und in der Volksbühne, zwei der wichtigsten Arbeitsstätten Gotscheffs. So hat die Einladung der Münchner Inszenierung zum Theatertreffen einen Berlin-Bezug, wie die gesamte diesjährige Auswahl übrigens, obwohl mit Herbert Fritschs Oper „Ohne Titel Nr. 1“ genau genommen nur eine Produktion aus der Hauptstadt vertreten ist.
Doch viele Protagonisten stehen mit Berliner Bühnen in enger Verbindung, so wie Gotscheff, dessen „Zement“-Inszenierung in ihrer Monumentalität irgendwie aus der Zeit gefallen scheint. Womit sie sich von der Mehrheit der „zehn bemerkenswertesten Inszenierungen“ absetzt, die von der siebenköpfigen Kritikerjury aus 395 Produktionen aus Deutschland, Österreich und der Schweiz ausgewählt wurden. Denn was Theater eigentlich ist, darf oder sein könnte, diese Frage werfen viele der eingeladenen Arbeiten auf. Genre-Grenzen verblassen dabei mitunter bis zur Unkenntlichkeit. Yvonne Büdenhölzer, Leiterin des Theatertreffens: „Die deutschsprachige Theaterlandschaft ist ein ständiger Ort der Erneuerung und der mutigen ästhetischen Setzung.“
Sprache spielt oft keine Rolle mehr
Ein großartiges Beispiel hierfür ist „tauberbach“. Alain Platels neue Kreation, eine internationale Koproduktion, die schon vor einigen Wochen im ausverkauften Hebbel am Ufer mit ihrer Intensität dem Zuschauer förmlich den Atem raubte, ist mehr Tanz- als Sprechtheater. Überhaupt ist „tauberbach“ kein Stück im konventionellen Sinn. Man erlebt Menschen im Müll der Zivilisation, einem riesigen Kleiderberg, doch sie leben in einem jenseitigen Universum. Kurze Sätze und zuckende Bewegungen stellen immer wieder kurz den Bezug zum Diesseits her. Ein raues, in seiner Schonungslosigkeit bewundernswertes Spiel. Als „deutschsprachige Theaterinszenierung“ im Sinne des Theatertreffens wird man es kaum bezeichnen können.
Ähnliches gilt für „Ohne Titel Nr. 1 / Eine Oper von Herbert Fritsch“ von der Berliner Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz. Fritsch, der Chaos-Künstler unter den Regisseuren, ist in schöner Regelmäßigkeit beim Theatertreffen, von seinen Volksbühnen-Inszenierungen waren zuletzt „Murmel Murmel“ sowie die völlig überdrehte Adaption des Schwank-Klassikers „Die (s)panische Fliege“ vertreten. Seine „Oper“, die natürlich gar keine Oper ist, könnte man als Konsequenz von „Murmel Murmel“ begreifen. Beschränkte sich damals der gesamte Text auf die Wiederholung eines einzigen Wortes, nämlich „Murmel“, so haben seine Darsteller in „Ohne Titel Nr. 1“ gar keinen Text zu behalten – aber ansonsten verdammt viel Komisches zu tun. Wie mechanische Körper, immer wieder aufs Neue aufgedreht, verwendet sie ihr Regisseur, der den Nonsens zur hohen Kunst erhebt.
Verformte menschliche Natur
Sprechtheater in gewohnter Form darf man ebenfalls nicht bei Marieluise Fleißers „Fegefeuer in Ingolstadt“ erwarten. Susanne Kennedys Inszenierung für die Münchner Kammerspiele bietet Vollplayback-Theater. Alle Dialoge kommen vom Band und werden von den Darstellern lippensynchron mitgesprochen. Ein Volksstück in kaltem Neonlicht, in dem die Beteiligten zu Zombies mutieren. Die Sprachlosigkeit eines Ankömmlings in der Zivilisation, „Die Geschichte von Kaspar Hauser“, demonstriert Regisseur Alvis Hermanis am Schauspielhaus Zürich mit Kindern, die von schattenhaften Schauspielern gelenkt werden. Quasi eine Neuerfindung des Puppenspiels, mit der gezeigt wird, wie die Biedermeiergesellschaft die menschliche Natur verformt.
Wer bin ich? Und wenn ja, wie viele? Kleists „Amphytrion“ hat Karin Henkel am Schauspielhaus Zürich ins Facebook-Zeitalter transportiert. Ob Rollen, Spielebene oder Text, hier wird alles verdoppelt oder vervielfacht und gerät so zu einem Kollaps der Identitäten. „Situation Rooms“ von Rimini Protokoll leitet den Zuschauer mit Hilfe eines Tablets durch die Welt des modernen Krieges. Wie bei einem Videospiel nimmt er mal die Rolle eines Waffenhändlers, eines Piloten im Kampfjet, eines Friedensaktivisten oder Kriegsflüchtlings ein. Schon ein bisschen peinlich, dass diese Koproduktion der Ruhrtriennale mit zahlreichen anderen Kulturinstitutionen „aus terminlichen Gründen“ während des Theatertreffens nicht gezeigt werden kann. Erst im Dezember ist die Inszenierung im HAU/Hebbel am Ufer zu sehen.
Schicksale in Zeiten des Krieges
In „Die letzten Zeugen“ vom Wiener Burgtheater sitzen sechs Holocaust-Überlebende schweigend hinter einem durchsichtigen Vorhang. Ihre scheinbar regungslosen Gesichter werden auf Leinwand projiziert, während vier jüngere Schauspieler ihre Lebens- und Leidensgeschichten vorlesen. 75 Jahre nach dem Novemberpogrom gelang Doron Rabinovici und Matthias Hartmann eine bewegende Collage der Erinnerung. Dass Hartmann unlängst wegen einer Finanzaffäre seines Amtes als Burgtheater-Intendant enthoben wurde, gibt dem Auftritt beim Theatertreffen zudem eine kulturpolitische Brisanz.
Ein furioser Abgesang auf das Gute im Menschen ist Louis-Ferdinand Célines „Reise ans Ende der Nacht“, entstanden unter dem Eindruck des Ersten Weltkriegs. Volksbühnen-Intendant Frank Castorf hat Célines Debütroman mit flackernden Bildern für das Münchner Residenztheater auf die Bühne gebracht. Auch „Onkel Wanja“ vom Schauspiel Stuttgart hat einen gewissen Berlin-Bezug. Robert Borgmanns Tschechow-Inszenierung gehörte zum dreitägigen Eröffnungsreigen der Intendanz des Armin Petras, der zuvor das Berliner Maxim-Gorki-Theater leitete. Der „Mut zur Entschleunigung“, den die Theatertreffen-Jury der Regie bescheinigt, konnte ein großer Teil des Stuttgarter Premierenpublikums übrigens nicht nachvollziehen und quittierte die dreieinhalbstündigen Szenen aus dem russischen Landleben mit wahren Buhsalven.
Großes Rahmenprogramm
Meinungsverschiedenheiten und heftige Debatten gehören nun mal als unverzichtbarer Bestandteil ebenso zum Berliner Theatertreffen wie die verzweifelte Suche nach Eintrittskarten. Seit 12. April läuft der Vorverkauf. Wer leer ausgeht, der sei auf den Stückemarkt, das umfangreiche Rahmenprogramm, das Public Viewing ausgewählter Arbeiten bei freiem Eintritt sowie die Konzerte und Partys verwiesen.