Venedig

Das sind die Favoriten für den Goldenen Löwen

| Lesedauer: 6 Minuten
Peter Zander

Foto: 69th Venice International Film Festival

Ob Beziehungsgeschichte, Scientology-Allegorie oder Kapitalismuskritik - in Venedig laufen echte Juwelen. Da stört auch eine Anzeige nicht.

Die erste Woche ist vorbei, das Filmfestival von Venedig geht in die Endrunde. Noch immer hat der russische Wettbewerbsbeitrag „Izmena“ mit seiner kraftvollen deutschen Hauptdarstellerin Franziska Petri nichts von seiner Wucht verloren. Paul Thomas Andersons Scientology-Allegorie „The Master“ wurde zwar hochkontrovers aufgenommen, man tippt aber auch hier auf einen Darstellerpreis, wobei man nicht sicher ist, wer den bekommen sollte: Philip Seymour Hoffman, Joaquin Phoenix oder beide ex aequo, so sehr spielen sie sich gegenseitig an die Wand. Und dass ein italienischer Anwalt Ulrich Seidl, den Regisseur des österreichischen Films „Paradies: Glaube“, wegen Gotteslästerung angezeigt hat und den Festivalchef Antonio Barbera gleich mit, hat nicht nur die Kritik des Films am katholischen Fundamentalismus bestätigt, sondern auch die ohnehin nicht geringen Preischancen dieses Beitrags erhöht: Auf eine solche Attacke gegen das Festival und die Freiheit der Kunst wird die Internationale Jury wohl mit einer üblichen solidarischen Geste reagieren, reagieren müssen.

Der bislang stärkste und alles überragende Beitrag kommt indes aus Korea: „Pieta“ von Kim Ki-duk. Der Regisseur schien dem Weltkino schon verloren: Er hat sich in einer längeren hochdepressiven Phase in eine einfache Waldhütte zurückgezogen und darüber auch einen Dokumentarfilm gedreht, „Arirang“, der vergangenes Jahr in Cannes gezeigt wurde. Es stand zu befürchten, dies könne sein Abschied, sein Schwanengesang sein. Nun aber ist er mit „Pieta“ wieder ganz der Alte. Und sieht den Film auch selbst als Comeback an. Es sind einmal verstörende, schwer zu verkraftende Bilder, die er seinem Publikum zumutet. Als er vor 12 Jahren am Lido „The Isle“ zeigte, musste, unvergessen, die Vorführung unterbrochen werden, weil Zuschauer in Ohnmacht fielen.

Ganz so schlimm ist es in „Pieta“ nicht. Und doch: Die Hauptfigur, ein junger Mann, der Schuldgelder eintreibt, tut dies nicht auf gewöhnlich mafiotischem Wege, sondern über Versicherungen gegen Verkrüppelung. Was natürlich bedeutet, dass der Mann genau dies seinen Schuldnern antun muss, also buchstäblich Knochenarbeit leistet. Eine beißende, ins Absurde getriebene Kapitalismuskritik, denn die Opfer bieten geradezu dankbar ihre heilen Gelenke an – wenn sie dafür nur aus ihren finanziellen Nöten kommen. Gedreht hat Kim Ki-duk in Cheonggyecheon, früher ein Wahrzeichen des industriellen Aufschwungs in Korea, heute eher ein Mahnmal falscher Hoffnungen. „Pieta“ hätte gleichwohl überall auf der Welt spielen können, Kim plante sogar, ihn in Europa zu drehen. Seine Kritik versteht er als weltumspannend, und ihr hält er ein fast archaisches Bild entgegen: das der Pieta. Denn eines Tages wird der Mann ohne Gewissen mit seiner eigenen Mutter konfrontiert, die ihn gleich nach der Geburt aufgegeben hat und jetzt um späte Gnade bittet.

Das Spiel mit religiösen Werten

Es ist erschütternd, wie unter der Maske der Eiseskälte und Herzlosigkeit doch so etwas wie menschliche Regungen erkennbar werden, die natürlich erst recht eine Katastrophe auslösen. Es fällt schwer, Filme mit solch expliziten Gewaltszenen zu loben, und doch erreicht Kim Ki-duk sein Publikum wie durch ein Purgatorium, durch das man gegangen sein muss.

Es überrascht, wie häufig die Filme sich in diesem Lido-Jahrgang an religiösen Werten orientieren oder sich an ihnen abarbeiten. Das gilt auch für das zweite Meisterwerk, das am Lido zu entdecken war, auch wenn es bei weitem nicht so euphorisch aufgenommen wurde. Terrence Malick gilt, bei gerade mal sechs Filmen in 39 Jahren, als Kultregisseur. Der Amerikaner hat eine ganz eigene Signatur entwickelt, eine unverkennbare Art, filmisch zu erzählen und wie in Trance durch seine eigenen Bilder zu gleiten, dass dabei so schnöde Dinge wie Dialoge und Handlung völlig zur Nebensache geraten. Vielmehr staunt Malick mit seiner schwebenden Kameraarbeit immer wieder die Schöpfung im Ganzen an – und staunt auch über die menschliche Natur, die da irgendwie nicht hineinpasst. Auf diese Art hat er den ungewöhnlichsten aller Kriegsfilme gedreht („Thin Red Line“) und sich erst vor einem Jahr (er dreht jetzt deutlich schneller als früher) in Cannes mit „Tree of Life“ durch eine exemplarische Kindheit mäandert.

„To The Wonder“ nun ist eine Beziehungsgeschichte: die von einer jungen Europäerin (Ex-Bond-Girl Olga Kurylenko) und einem Amerikaner (Ben Affleck), die romantisch in Paris beginnt und dann in der Ödnis der amerikanischen Provinz im Alltag ankommt und entzaubert wird. Malick hat Unsummen von Szenen gedreht, auch reichlich Dialoge, und doch am Ende das Meiste beherzt wieder aus dem Film geworfen. Die Entfremdung der Frau und die Ernüchterung des Mannes, sie werden in lauter einzelne Stimmungsbilder aufgelöst, aus denen sich der Zuschauer ein Mosaik zusammenbasteln muss. Nur einer Nebenfigur wird dabei noch Raum zugestanden: die eines spanischen Priesters (Javier Bardem), der in einer Glaubenskrise steckt und eine ähnliche Entfremdung durchlebt. Zu plump, zu wenig, höhnen die enttäuschten Kritiker am Lido. Die anderen aber, zu denen wir uns mit Emphase dazuzählen, sehen gerade hier die Kunst des Terrence Malick zur Vollendung gereift.

Äußerst heterogenes Programm

In seinem ersten Festival seit elf Jahren hat Mostra-Chef Barbera ein äußerst heterogenes Programm aufgestellt, mit einigen Titeln, die besser nicht in den Wettbewerb geraten wären. Er hat aber mit Kim Ki-duk, Malick und Kirill Serebrennikov auch echte Juwelen in der Auslage, die alle Kritik verblassen lassen und an denen man bei der Preisvergabe wohl nicht vorbei kommt. Am Mittwoch lief mit Marco Bellocchios „Bella addormentata“ zudem ein politisch brisanter Film über die Sterbehilfedebatte in Italien, der für erregte Debatten im eigenen Land sorgen dürfte. Was stört Barbera da eine Anzeige wegen Gotteslästerung? Wäre der Fakt nicht so absurd real, man könnte darin fast einen PR-Gag vermuten.