Freiheit für den Film. Was als erstes auffällt bei den 69. Filmfestspielen von Venedig, die nun eröffnet wurden, ist die freie Sicht. Vorbei die Zeiten, da die Promenade vor dem Palazzo del Cinema großräumig von Sicherheitsbarrieren abgesperrt war. Wenn die Stars diesmal über den roten Teppich wandeln, wird man nicht mehr an Käfige im Zoo erinnert. Vorbei auch die Zeit, da ein riesiges Bauloch gleich neben dem roten Teppich klaffte. Immerhin: In Zeiten immenser Bauverzögerungen à la Berliner Flughafen, Lindenoper & Elbphilharmonie versöhnt es eigentlich, wenn auch anderswo Großbaustellen nicht vorankommen. In Venedig allerdings hat man das Loch, in das modernste Kinosäle unterirdisch gebaut werden sollten, einfach wieder zugeschüttet. 27 Millionen Euro wurden damit buchstäblich in den Sand gesetzt. Wo jahrelang die Baugrube notdürftig übertüncht wurde, laden jetzt Sitzoasen und Sonnendächer zum Verweilen ein. Nur die hintere Hälfte ist noch offen, wo ein Behelfskino entstehen soll. Der Traum vom großen, hypermodernen Festival aber ist am Lido erst einmal ausgeträumt.
Unter Generalverdacht
Da passt es nur zu gut, wenn auch der Eröffnungsfilm von dem Platzen eines Traumes erzählt, wenngleich eines sehr viel größeren: dem amerikanischen Traum. „The Reluctant Fundamentalist“ von Mira Nair handelt, erst einmal, von dem Paradebeispiel einer geglückten Integration. Ein Pakistani, der mit 18 Jahren in die USA kommt, spielt Football, schließt mit Summa cum laude ab, startet an der Wall Street, wird von einer schönen Amerikanerin geliebt. Der Mann hat es also geschafft. Und, er muss es gleich mehrmals sagen, er liebt Amerika. Doch am Tag seines Karrieresprungs, seines Triumphes fallen die Twin Towers in New York. Und plötzlich wird er als Fremder behandelt, beleidigt, diskriminiert, unter Generalverdacht gestellt. Amerikanische Filme lieben es ja gern plakativ, damit auch der Letzte im Saal versteht, worum es geht. Und so wird dieser junge Pakistani auf einem Flughafen gezwungen, sich nackt auszuziehen und eine Rektaluntersuchung über sich ergehen zu lassen. Wir sehen sein Gesicht durch ein Überwachungsglas, auf dem sich noch einmal die Fernsehbilder von den einstürzenden Türmen spiegeln. Da bricht nicht nur ein Wahrzeichen Amerikas ein, sondern auch das Urvertrauen in diese Nation. Die Geschichte einer Entfremdung, einer beidseitigen Abstoßung.
Wir haben in den vergangenen elf Jahren schon eine ganze Reihe von Filmen über derlei Schicksale gesehen, in denen friedliche, assimilierte Ausländer erst durch die Abgrenzung der anderen auf ihre kulturellen, auch religiösen Wurzeln zurückgeworfen werden. Mira Nairs Film kommt da etwas spät und hat eigentlich, auch wenn ihr Antiheld alle Brücken abbricht und in seiner alten Heimat die Jugend aufstachelt, nicht viel Neues zu erzählen. Ihr „Fundamentalist“ ist einer dieser Festivalfilme, um die man nicht herum kommt. Weil er sich an einem Thema abarbeitet, das die ganze Welt traumatisiert hat. Weil er amerikanische Stars zumindest in Nebenrollen aufbietet, die dann auch den roten Teppich bestücken (Kiefer Sutherland, Kate Hudson, Liev Schreiber). Weil er auf einem Bestseller basiert, Moshin Hamids „Der Fundamentalist, der keiner sein wollte“, der vor fünf Jahren auf der Short List des Booker's Prize stand. Und weil er große epische Bilder aus mehreren Ländern garantiert, auch wenn deren permanenter Postkartenhochglanz bei der Geschichte einer Radikalisierung zunehmend kunstfertig und schal wirkt.
Dass der Film die 69. Mostra d'arte cinematografica eröffnet, hat andere Gründe. Mira Nair ist so etwas wie ein Maskottchen für den neuen, alten Festivalchef. Die indische Regisseurin hat im letzten der drei Jahre, in denen Alberto Barbera schon einmal am Lido die Strippen zog, den Goldenen Löwen für „Monsoon Wedding“ gewonnen. Die neue Nair-Premiere am gleichen Ort verspricht Kontinuität, Barbera knüpft so nahtlos an seine ersten Jahre an. Und was Mira Nair an der Adaption des Buches gereizt haben mag, liegt auf der Hand: Sie gewann den Goldenen Löwen am 8. September 2001.
Als die Welt auseinander brach
Es mag ihr wie der tragischen Figur des Romans ergangen sein: Gerade noch schwelgte sie auf dem höchsten Triumph, als erst zweite Regisseurin auf einem internationalen Festival den Hauptpreis gewonnen zu haben. Dann brach drei Tage später die Welt auseinander, und ganze Nationen wurden plötzlich von der westlichen Welt argwöhnisch betrachtet. Keiner wohl schien geeigneter, diesen Stoff zu verfilmen als die Nair, die gleich auf drei Kontinenten, in den USA, Indien und Uganda, zuhause ist und in all ihren Filmen das Mit- und Gegeneinander der Kulturen analysiert. Keiner aber hätte sich mit seinem Gutmenschentum dabei auch mehr im Weg stehen können: Wie ihr Fundamentalist keiner sein will, will Mira Nair den Clash der Kulturen eigentlich gar nicht zeigen, sondern strebt gleich deren Versöhnung an.
Das Fest der friedlichen Koexistenz indes feiert erst der zweite Film des Eröffnungsabends. „Enzo Avitabile – Music Life“ handelt von einem Musiker, der außerhalb Italiens und selbst in seiner Heimat, als Grenzgänger und Experimentierer jenseits allen Mainstreams, wohl nur einer Minderheit bekannt ist. Man steckt derartige schwer-etikettierbare Musikstile gern in die Schublade „Weltmusik“, und da lässt man sie dann auch liegen. Einer, der Avitabile gleichwohl kennt, ihn zufällig in Amerika im Radio entdeckt hat und dann zu einem wahren Fan wurde, ist Venedig-Dauergast Jonathan Demme. Und weil der Mann nicht nur für Spielfilme wie „Das Schweigen der Lämmer“ berühmt ist, sondern auch für seine Musikdokus über die Talking Heads, Neil Young und Bruce Springsteen, hat er Avitabile in seiner neapolitanischen Heimat besucht. Und der hat dafür Weltmusiker aus buchstäblich aller Welt zu einer riesigen Jam Session eingeladen. Da sitzen lauter Meister traut vereint beisammen, und Demme immer mittendrin. Hier lauscht einer dem anderen, stimmt in dessen Klangsphären ein, ein Fest der großen, nicht nur musikalischen Harmonie – das gleichwohl, Demme zum Trotz, ebenfalls in der Schublade „Weltmusik“ verschwinden wird.
Eine Inderin dreht einen zutiefst amerikanischen Film, ein Amerikaner einen italienischen: Das darf man wohl wirklich Weltkino nennen. Und es bietet wenn schon keinen sensationellen, so doch einen achtbaren Auftakt für ein Festival, das sich selbst im Weltgetriebe neu positionieren will.