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Filmfestspiele in Venedig kommen ohne Skandal aus

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Peter Zander

Foto: 69th Venice International Film Festival

„Sex mit Kruzifix“ sorgt für ein klein wenig Aufregung im katholischen Italien. „The Master” scheitert an der Entzauberung Scientologys.

Ein Skandal, zumindest ein Skandälchen ist für ein gelungenes Filmfestival fast so wichtig wie Stars und gute Filme. Nun kann aber nicht jede Veranstaltung dieser Art einen Lars von Trier aufbieten, der sich um Kopf und Kragen redet. Manchmal muss man sogar richtig nach einer kleinen Aufregung suchen.

„La Republicca“ meint jetzt in Venedig einen Stein des Anstoßes gefunden zu haben: in dem österreichischen Wettbewerbsfilm von Ulrich Seidl. „Sex mit Kruzifix“, empörte sich die Zeitung, und: „‚Paradies: Glaube' verursacht Skandal.“ Nun sind Seidls Filme eigentlich alle Hardcore, voller unsympathischer Zeitgenossen. In seinem jüngsten Werk erzählt er fast quasidokumentarisch vom Wahn einer Katholikin, andere bekehren zu müssen.

Und, ja, sie nimmt einmal das Kruzifix von der Wand und verrichtet damit unter der Bettdecke sexuelle Handlungen. So etwas scheint aber nur das katholische Italien erschüttern zu können, überwiegend wurde herzhaft gelacht, wenn etwa ihr Bibelkreis schwört, „dass Österreich wieder katholisch wird“.

Spekulationen um Scientology

Ein Aufreger hätte auch Paul Thomas Andersons amerikanischer Beitrag „The Master“ werden können. Ein Film über die Anfänge von Scientology und deren Gründer L. Ron Hubbard. Auch wenn die religiöse Organisation hier „The Cause“ heißt und ihr Anführer Lancaster Dodd, sind die Parallelen offensichtlich. Ein Schlüssel- und Schlüssellochfilm durfte man also vermuten, Proteste von Scientology erwarten. Dass Paul Thomas Anderson diesen Film schon seit zwölf Jahren realisieren wollte, ein großes Hollywoodstudio aber abgesprungen ist, nährte gar Spekulationen, der Film hätte verhindert werden sollen.

Nun ist er in der Welt, Scientology hält sich bedeckt. Und Anderson ging einen vermutlich weisen Weg: Indem er nicht eine verklausulierte Filmbiografie über Hubbard erzählt, sondern die Geschichte seines Bodyguards. Ein Mann, der traumatisiert aus dem Krieg kommt und sich nicht mehr in der Gesellschaft zurechtfindet. Ein Entwurzelter, Getriebener, der schließlich bei der Sekte landet und dort einen Halt findet. Dass die ersten Nachkriegsjahre eine Ära diverser spiritueller Bewegungen waren, ist so wohl noch nicht dargestellt worden. „The Master“ zieht sich aber ganz auf diese Perspektive zurück (und müsste eigentlich „The Servant“ heißen). So ist der episch breite Zweieinhalbstünder in erster Linie ein schauspielerisches Duell zwischen Joaquin Phoenix, der seine Darstellung bis an physische Grenzen treibt, und Philip Seymour Hoffman, der sich nach „Capote“ schon wieder eine zeithistorische Figur regelrecht einverleibt.

Doch so eindringlich das Drama auch gespielt, so virtuos es inszeniert ist (man darf auf einige Oscar-Nominierungen spekulieren): Was den Mythos von Hubbard und die Anziehungskraft auf seine Gefolgschaft ausmachte, das bleibt uns der Film letztlich schuldig. Der Regisseur konnte „The Master“ seelenruhig seinem Freund Tom Cruise zeigen (der in Andersons „Magnolia“ einen seiner besten Auftritte hatte) – der Scientology-Star soll nicht viel beanstandet haben.

Spike Lee dreht Auftragswerk

Vielleicht sollte man von Mythen- und Überfiguren tunlichst die Finger lassen. Einer, der damit seine Erfahrungen gemacht hat, war Spike Lee mit seiner umstrittenen Filmbio über den streitbaren Malcolm X. Lee hat jetzt am Lido eine Doku über Michael Jackson vorgestellt. Und man durfte gespannt sein, wie der Blick des afroamerikanischen Regisseurs auf den afroamerikanischen Popstar ausfallen würde. Aber „Bad 25“ ist genau das, was der Titel verspricht: eine Jubiläumshommage auf Jacksons Supererfolgsalbum, das vor 25 Jahren die Charts der ganzen Welt eroberte.

Lee hat alle Weggefährten von Jackson besucht und rekonstruiert quasi Song für Song die Genese von „Bad“. Die Musiker und Produzenten dürfen en détail erklären, warum welches Instrument verwendet wurde, Martin Scorsese noch mal erzählen, wie er sein legendäres Musikvideo mit Jacko drehte.

Aber was Jackson zum größten Popidol machte, wird so nie greifbar, und Fragen zu den späteren Skandalen und Vorwürfen werden gar nicht erst angerissen. Immerhin: 15 Minuten vor Schluss wird sein Tod angerissen, alle Freunde und Begleiter stocken und kämpfen mit den Tränen. Aber dann geht es schon wieder um den nächsten, den letzten Song. In keiner Sekunde geht das Auftragswerk über seinen Auftrag hinaus. „Bad 25“ wird bestimmt bald als Deluxe-Edition mit dem Album erscheinen, und genau da gehört es hin.

Sprachlosigkeit in bildmächtige Metaphern

Nein, die Amerikaner, wiewohl so stark vertreten am Lido, haben bislang noch nicht so recht zu überzeugen vermocht. Die Werke von Malick, Redford und De Palma stehen allerdings noch aus; einmal wird nicht das ganze Star-Kino am ersten Wochenende eines Festivals abgefackelt. Davon profitieren andere Werke, die sonst eher untergehen.

Wie etwa „Izmena“, der russische Beitrag von Kirill Serebrennikow. Eigentlich eine ganz kleine Geschichte von zwei Betrogenen, die gemeinsam ihren fremdgehenden Gatten nachspüren. Die aber wird ganz groß in Szene gesetzt, mit verfremdenden, verstörenden Bildkompositionen, durch welche die Hauptfiguren wie in Schockstarre taumeln. Ein Film, der mit ganz wenigen Dialogen auskommt, aber die Sprachlosigkeit seiner Figuren in bildmächtige Metaphern gießt. Die schönste, größte Überraschung in diesem schönen, großen Film ist Franziska Petri.

Wenn der deutsche Film schon nicht vorkommt am Lido, ist es doch mehr als tröstend, wenn eine deutsche Schauspielerin in einem anderen Beitrag glänzt. Zumal die Berlinerin im deutschen Film so sträflich unterschätzt und unterfordert wird, hier aber einmal ihr ganzes Potenzial entdeckt und ausgeschöpft wurde. Dieses markante, ätherische Gesicht, das nie weinen kann und doch immerzu schreien mag unter einer fast maskenhaften Beherrschtheit, dieses Gesicht wird man so schnell nicht vergessen. Ein erster echter Löwenanwärter.