Der Theaterregisseur erhält für seine Shakespeare-Inszenierung “Maß für Maß“ den Friedrich-Luft-Preis der Berliner Morgenpost.
Sie sitzen auf einer Bank an der Wand in einem güldenen Käfig. Die Fliesen sind schon ziemlich schmutzig. Die Spieler erheben sich, gehen zum am Boden liegenden Kronleuchter (später hängt dort ein halbes Schwein – und stimmen ein Lied an: ein wohlklingendes, wie herübergeweht aus elisabethanischer Zeit.
Der Herzog trägt einen weißen Anzug. Er will die Macht vorübergehend an Angelo abgeben. Viel ist von Gnade und Ehre die Rede. Angelo will die Krone des Herzogs nicht ergreifen. Ein kokettierendes Zögern. Noch ist der Alte da, denkt er sich vielleicht, auch wenn die Untergebenen schon viel Wind und noch mehr Lärm machen, indem sie die Ankunft eines Hubschraubers simulieren. Der bringt den alten Herzog in sein selbst gewähltes Exil. Dort angekommen, offenbart er im Gespräch mit einem Pater den wahren Grund seines Rückzuges: Die Sitten, sie sind unter seiner Regentschaft zu locker geworden, der „Anstand geht den Bach runter“. Der Herzog allerdings will sich die Hände nicht schmutzig machen. Soll doch sein temporärer Nachfolger durchgreifen, um Sitte und Ordnung wiederherzustellen. Weil man aber Konkurrenten selten trauen kann, beschließt der Herzog, als Mönch verkleidet Angelos Wirken genau zu beobachten.
Drastische Effekte
Macht und Moral sind die Eckpfeiler von Thomas Ostermeiers Inszenierung von Shakespeares „Maß für Maß“. „Meine Lüge wiegt mehr als deine Wahrheit“ ist der wichtigste, der schmerzhafteste Satz in dieser Aufführung, die als beste Berliner und Potsdamer Inszenierung des Jahres 2011 den mit 7500 Euro dotierten Friedrich-Luft-Preis der Berliner Morgenpost erhält. Die Jury bezeichnete die Inszenierung als eine „hochaktuelle Parabel über Macht und Moral. Die Aufführung entfaltet einen großen Sog, sie zieht die Zuschauer tief in die Geschehnisse hinein. Die mitunter drastischen Effekte erweisen sich als sinnvoll und in ihrer Metaphorik ebenso provokativ wie produktiv.“
Es ist ein Abend darüber, wie Menschen sich gegenseitig instrumentalisieren, um ihre eigene Wahrheit in ein besseres Licht zu stellen. Ein Abend über den Sieg des Scheins über das Sein. Zwischenmenschliche Beziehungen werden dem Spiel mit der Macht eiskalt geopfert.
2011 war das Jahr der großen Bühnen: Das Deutsche Theater wurde mit drei Produktionen für den Friedrich-Luft-Preis 2011 nominiert, das Maxim-Gorki-Theater war ebenso wie die Schaubühne zweimal vertreten. Auf je eine Nennung kamen das Berliner Ensemble, die Volksbühne und das Potsdamer Hans-Otto-Theater. Erstmals war auch eine Aufführung einer Boulevardbühne dabei: Das Theater am Kurfürstendamm ging mit „Wer hat Angst vor Virginia Woolf?“ ins Rennen um den Theaterpreis der Berliner Morgenpost. Wenn Schwänke wie „Die spanische Fliege“ an der Volksbühne laufen, warum sollen sich der Unterhaltung verpflichtete Häuser nicht dem ernsten Genre zuwenden? Zumal, wenn mit Katja Riemann eine Schauspielerin auf der Bühne steht, die zwar nicht zum ersten Mal am Kudamm spielt, aber noch nie so überzeugend war wie an der Seite von René Peter Lüdicke. Die Inszenierung von Amina Gusner konnte sich schließlich nicht durchsetzen, sie kann aber noch bis zum 8. April angeschaut werden.
Auch Nicolas Stemanns Liederabend „Aufhören! Schluss jetzt! Lauter!“ war bis zum Schluss ein Kandidat für den Preis. Der zwischen Musik und Schauspiel pendelnde, aus gewohnten Theaterrastern herausfallende Abend, in dem Publikumserwartungen, Burn-outs, Rücktritte und einiges mehr auf sehr unterhaltsame Weise reflektiert werden, kam am Deutschen Theater heraus. Stemann entwickelte die Aufführung stetig weiter, stand selbst als Conférencier und Musiker auf der Bühne. Bei der Premiere war der Abgang von Margot Käßmann ein Thema, bei der letzten Aufführung Anfang März rückte Ex-Bundespräsidenten Wulff an ihre Stelle.
Scheinbar tugendhaft
Elf Kandidaten – das sorgte für viel Diskussionsstoff in der Jurysitzung im Journalistenclub des Verlagshauses. Rund zweieinhalb Stunden wurde debattiert und gerungen, dann stand der Sieger fest: „Maß für Maß“ ist eine Koproduktion der Schaubühne mit den Salzburger Festspielen, dort hatte die Inszenierung von Thomas Ostermeier im vergangenen Sommer Premiere. Mit dabei die beiden Ausnahmeschauspieler Gert Voss (als Herzog) und Lars Eidinger in der Rolle des ehrgeizigen und scheinbar tugendhaften Angelo.
„Eine schöne Nachricht, ich freue mich“, war die erste Reaktion von Thomas Ostermeier, dem künstlerischen Leiter der Schaubühne. Er bekommt den Friedrich-Luft-Preis zum zweiten Mal. „Aber das ist ja wahnsinnig lange her, noch im letzten Jahrtausend“, sagte der Regisseur am Telefon. Recht hat er. Es war 1997. Er bekam die Auszeichnung für seine Inszenierung „Messer in Hennen“ – damals arbeitete Ostermeier noch am Deutschen Theater (DT) unter der Intendanz des kürzlich verstorbenen Thomas Langhoff. Ostermeier (Jahrgang 1968) leitete die Baracke, eine kleine Spielstätte des DT, gewissermaßen die Bühne für Entdeckungen und Experimente. Zur Spielzeit 1999/2000 wechselte er dann als einer von vier künstlerischen Leitern an die Schaubühne, die kollektive Führung hielt einige Jahre, mittlerweile ist Ostermeier fürs Künstlerische allein verantwortlich.
Die Auszeichnung soll Ende Mai oder Anfang Juni im Anschluss an eine „Maß für Maß“-Vorstellung überreicht werden. Die Berliner Morgenpost verleiht den Preis seit 1992 im Angedenken an ihren 1990 gestorbenen Theaterkritiker Friedrich Luft.