Fotoausstellung

Künstlerin Taryn Simon zeigt die Spur des Blutes

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Tim Ackermann

Foto: dpa / dpa/DPA

In ihrer Ausstellung in der Neuen Nationalgalerie präsentiert die amerikanische Fotokünstlerin Taryn Simon außergewöhnliche Familiengeschichten aus der ganzen Welt. Vier Jahre lang hat sie sich dafür auf die Spur des Blutes begeben.

Blutlinie. Das Wort klingt erst mal komisch. Zumal in Berlin und zumal hier, in der Neuen Nationalgalerie – jenem Glasbau von Ludwig Mies van der Rohe, der als besonders gelungenes Beispiel für den „International Style“ gilt. Mit diesem Baustil wollten die Architekten schließlich für alle Menschen da sein, unabhängig irgendwelcher Kulturunterschiede. Das Wort „Blutlinie“ – das klingt dagegen in Deutschland immer noch sehr nach „Blut und Boden“. Nach der zum Glück überholten Idee, das direkte Abstammung zwangsläufig ein privilegiertes oder ein schlimmes Schicksal bedingt. Blutlinie ist ein Wort, das die Menschen trennt: Unser Blut und euer.

Man kann es auch anders sehen. So wie Taryn Simon zum Beispiel. Für sie ist die Blutlinie eine Spur, der man folgt, um etwas über sich und die Welt herauszufinden. Die amerikanische Fotokünstlerin hat sich auf diese Spur des Blutes begeben und Familiendynastien in China, Tansania oder Brasilien fotografiert. Die Künstlerin mit den langen schwarzen Haaren, den grünen Augen und dem zumeist ernsten Blick agiert dabei so objektiv und unemotional wie eine Naturwissenschaftlerin beim Feldversuch. „Blut“, sagt Simon, „ist zunächst nicht mehr als ein einfaches Ordnungssystem. Und es ist die einzige Kategorie, auf die ich als Künstlerin keinen Einfluss habe.“

Das Double von Saddam Hussein

Taryn Simon steht in ihrer Ausstellung in der Neuen Nationalgalerie und überlegt, wo sie am besten den Wandtext anbringen kann. Die Schau eröffnet Mittwochabend. Bis dahin muss alles fertig sein. Simon steht in dem schmalen Gang zwischen den hohen schwarzen Stellwänden, die an aufgeklappte Buchseiten oder Regalreihen in Archiven erinnern. An der Wand direkt vor ihr hängt das Porträtfoto von Latif Yahia. Einem Iraker, der heute in Irland lebt.

Zu Latif Yahia erzählt die Künstlerin eine schier unglaubliche Geschichte: Schon in der Schule sei er ständig mit Uday Hussein, dem Sohn von Saddam Hussein verwechselt worden. Später wollte ihn der Diktatorenspross aus Angst vor Attentaten als Körperdouble. Yahia sagte nein, er wurde eingesperrt, seine Familie wurde bedroht, er sagte ja. Er bekam eine Zahnkorrektur, höhere Schuhe und musste für Uday öffentlich auftreten. Anfang der neunziger Jahre floh er und fand in Irland Asyl.

Simon hat Latif Yahia auf einem Stuhl sitzend fotografiert, er trägt einen dunklen Anzug mit gelber Krawatte, die Hände ruhen in seinem Schoß. Seine Miene ist so ausdruckslos wie der beigegraue Hintergrund vor dem er sitzt. In derselben Pose und mit demselben Gesichtsausdruck und Hintergrund hat Simon auch noch Yahias Mutter, seinen Sohn und die Kinder seines Bruders fotografiert. Der Bruder selbst wollte aus Angst nicht ins Bild, also kam sein Porträt mit in die Reihe aber es blieb leer. Kurz: Die Künstlerin hat versucht, alle lebenden Blutsverwandten der eigentlichen Hauptperson aufzutreiben – so wie sie es bei den restlichen 17 Kapiteln ihres Projekts auch versucht hat.

Es ist eine Sammlung absurdester Schicksale, denen die Künstlerin in einem Zeitraum von vier Jahren hintergespürt ist und die sie nun in ihrer Ausstellung präsentiert. Da erfährt man von Choe Jangguen, einem Chefingenieur aus Südkorea, der von feindlichen Agenten nach Nordkorea verschleppt wurde. Selbstverständlich fehlt sein Porträtbild nun inmitten seiner Familienmitglieder. Sehr präsent auf seinem Foto ist dagegen der Inder Shivutt Yadav, obwohl es ihn offiziell gar nicht mehr gibt. Einige übelgesinnte Verwandte ließen nicht nur ihn sondern auch gleich seine beiden Brüder und seinen Cousin bei den Behörden als tot erklären, damit sie an seinen Erbteil herankamen. Der Inder kämpft nun vor Gericht um die Anerkennung, wieder lebendig sein, und die lange Reihe seiner Nachkommen, die man in der Ausstellung studieren kann, wirkt wie ein verloren gegangenes Beweismittel in diesem abstrusen Rechtsstreit. Yadavs Geschichte gab der ganzen Ausstellung auch ihren Titel „A living man declared dead and other chapters“.

Es mag für die Berliner Besucher zunächst schwer zu begreifen sein, dass die Blutsverwandtschaft heute weiterhin so eine wichtige Rolle spielen soll. Scheint doch die Familie im Zeitalter von Patchwork-Leben und relativ unproblematischer Adoption auf vielfältige Weise und nicht selten eher durch Übereinkunft anstatt Abstammung zustande zukommen. Für die Menschen in Simons Ausstellung gab es Momente, in denen das falsche Blut in den Adern tatsächlich über Tod und Leben entscheidet. Es gibt etwa die 60-jährige Zumra Mehic, deren vier Söhne 1995 beim Massaker von Srebrenica – einem der letzten Völkermordverbrechen in Europa – von bosnisch-serbischen Soldaten ermordet wurden. Und es gibt die zwei brasilianischen Familien Ferraz und Novaes, die seit 1991 im Nordosten des Landes ihre Blutfehde pflegen.

Kann man DNA manipulieren?

Leicht könnte man in Simons Ausstellung einfach ein Archiv für gesammelte Familientragödien sehen. Doch es gibt auch optimistische Momente, wenn nachfolgende Generationen die Blutsverwandtschaft eben nicht zum Vorwand nutzen, um die Fehler der Eltern zu wiederholen. Die Söhne der palästinensischen Terroristin Leila Khaled sind dafür ein Beispiel. Beide ergriffen ganz bürgerliche Berufe.

Es sei vielleicht die letzte Gelegenheiten gewesen, ein solches Projekt zu machen, erklärt Simon ihre Motivation. Die Biotechnologie schreite weiter voran. Und wenn man die DNA manipulieren kann, was bedeute das dann für ein Konzept wie die Blutsverwandtschaft? „In Zukunft“, prophezeit Simon und blickt auf ihre Fotografien, „wird unser Blut einfach nicht mehr dasselbe sein.“

Neue Nationalgalerie, Ausstellung "A Living Man Declared Dead and Other Chapters", Potsdamer Straße 50, Tiergarten. Von 22. September bis 1. Januar 2011. Mo-Fr 10-18 Uhr, Do bis 22 Uhr. Sa/So 11-18 Uhr.