Und jetzt wachen wir alle mal ein bisschen auf. Ich weiß, das fällt schwer. Schließlich geht es im Folgenden um deutschsprachige Gegenwartsliteratur. Die war in letzter Zeit, hm, nicht so besonders belebend. Familienforschungen, Familienaufstellungen gabs viele, unfassbar viele Geschichten aus dem dahingegangenen Drüben der DDR auch. Viel Nostalgie, viel Kindheit, viel Berlin, wenig Gegenwart. Prickelfrisch ist was anderes. Wer nun aufwachen will aus diesem gemächlichen Erzähltrott des literarischen Alltags, lese Leif Randts „Schimmernder Dunst über CobyCounty“.
Fangen wir vielleicht erst mal mit CobyCounty an. Das gibt’s selbstverständlich nicht. Und gibt es doch. CobyCounty ist die Quersumme aus Mallorca, Mahagonny, Utopia und dem Stadtteil Prenzlauer Berg. Eigentlich, aber das nur nebenbei, ist Leif Randts zweiter Roman der beste und beängstigendste Berlin-Roman seit Jahren – einzig, dass es bei der CobyCounty-Hochbahn in 17 Jahren nur zu drei Verzögerungen im Betriebsablauf kam, könnte einen stutzig machen. CobyCounty ist eine Insel. Eine Kosmetikfirma hat da mal eine billige Produktionsstätte eingerichtet. Mit den Jahren ist daraus ein Sammelbecken für die Avantgarde, für talentierte, metropolenmüde Metropolisten geworden. Die gründeten in CobyCounty Verlage, Filmfirmen, später Konzeptgastronomien. Das ist auch schon vierzig Jahre her.
Ein ziemlich trauriger Haufen
Jetzt strömen im Frühling talentierte Freiberufler nach CobyCounty, weil man da so entspannt ist, weils da intellektuell so prickelt. Dabei ist CobyCounty inzwischen eine Art bessere Seniorenresidenz. Nichts tut weh da, niemand trägt Trauer, alles lind, alles langweilig. Die Avantgarde von einst macht – Mitte Sechzig inzwischen - in Marketing und Emphase, Webdesign und so was. Bieder sind sie – es macht halt doch alt und konservativ, wenn man den unendlichen Spaß längere Zeit lebt -, tragen beigefarbene Regenmäntel und wenn sie im Regen tanzen, was sie hin und wieder tun, die alten Avantgardisten, bewegen sie sich so, „als würden sie sich alle zeitgleich an alte Camcorderaufnahmen von ihren früheren Tänzen im Regen erinnern“. Ein ziemlich trauriger Haufen. Was im Übrigen auch für ihre Kinder gilt.
Beinahe aus Versehen, hat Leif Randt im Interview gesagt, sei sein Roman politisch geworden. Das muss man nicht ernst nehmen. Aus Versehen geschieht in dem Roman nämlich gar nichts. Nicht eine Zeile. Nicht eine Anspielung. Politisch ist dieser Roman nicht, weil es darin unter anderem um einen Wahlkampf in CobyCounty geht, sondern weil er mehr ist als ein Generationenporträt, weil er hinterrücks und scheinbar durch schiere Oberflächenanalyse eine ganze Gesellschaft vorführt und bitterstoffreich ironisiert. Hier wird ein Gesellschaftsspiel zu Ende gespielt, das kapitalistische trivial pursuit of happiness. Es ist kein lustiges Spiel. Leif Randt – Jahrgang 1983, geboren in Frankfurt, aufgewachsen in Maintal, ausgebildet im Kreativen Schreiben in der Hildesheimer Schreibschule, ansässig in Prenzlauer Berg – ist einer der auffälligsten Stilisten seiner Generation. Ein ganz eigener, ein hochbegabter Oberflächenbetaster, ein höchstsubtiler Gegenwartsbeobachter. Und einer der eifrigsten Sammler von Literaturpreisen: Finalist beim Open-Mike, Nicolas-Born-Nachwuchspreis, kulturSpiegel-Nachwuchspreis, MDR-Literaturpreis, zuletzt Ernst-Willner-Preis in Klagenfurt. Und wenn er mit seinem „Schimmernden Dunst“ nicht mindestens auf die Longlist des Deutschen Buchpreises kommt, sollte man die Jury gleich schon nach der Langlistenverkündigung entlassen.
Kommen wir jetzt zu den Kindern der Avantgardisten. Die sind ungefähr so alt wie Leif Randt. Und nicht nur diese Tatsache kann einen ahnen lassen, dass man in CobyCounty sehr viel weiter weg ist von Deutschland und der Gegenwart als in einem handelsüblichen Familienaufstellerroman, aber auch sehr viel näher dran. Wir müssen – es ist tatsächlich manchmal ziemlich quälend – Platz nehmen im Kopf von Wim Endersson. Der hat in CobyCountys School for Arts and Economics studiert, bekommt die Dreißig allmählich in Sichtweite und arbeitet in einer der führenden Literaturagenturen des Landes (CobyCounty ist sozusagen die literarische Kornkammer der westlichen Welt, sozusagen der Prenzlauer Berg in groß). Wim betreut die junge und jüngste Literatur, die ein ähnliches Problem mit Nostalgie, Kindheit und Familienaufstellung hat wie die unsere. Wim denkt sehr viel nach. Eigentlich ständig. Meistens über sich.
Ein begnadeter Analyst
Aber nicht nur. Er ist das Musterexemplar unauthentischer Lebensweise und Denkungsart. Wim ist ein begnadeter Analyst seiner selbst und ein Dauerreflektor alles dessen, was er sieht, fühlt, hört, was ihm begegnet. Gesten, Sätze, Gefühle werden umundumgewendet und in Echtzeit mit dem verglichen wird, was er schon mal gelesen, gehört, gesehen hat. Sie können gar nicht anders. Alles ist schon mal vorgelebt worden, von den Eltern, in den Büchern, vor allem im Fernsehen. Elmar Krekeler
Wim trägt gern hochwertige Hemden. Konsumentscheidungen sind die schlimmsten Entscheidungen die er zu treffen hat. Er lebt in mittlerem Tempo, in mittlerer Temperatur. Vor dem Beischlaf mit seiner Freundin Carla – die beiden waren, denkt Wim, auch schon mal passionierter miteinander – ziehen sie sich „relativ normal“ aus. Als sie ihm – per SMS – den Laufpass gibt, sucht er nach angemessenen Gesten. Er will ja authentisch wirken. Er endet in linder Melancholie, einem Zustand, den er deswegen so toll findet, weil er „keinerlei Konsequenz von mir verlangte“. Wims alter Vater – ein Filmregisseur – kehrt in die Stadt zurück. Wim wird beurlaubt. In der Partymetropole gibt es Untergrundpartys. Der Bürgermeister wird abgewählt. Es brennt auf dem Kosmetikvillenhügel. Die Eisenbahn fällt von der Brücke. Ein Sturm ist da. Das Weltende bleibt aus.
Leif Randt: Schimmernder Dunst über CobyCounty. Berlin Verlag. 191 Seiten, 18,90 Euro.