Deutsche Literatur

Trotz allem – Martin Walser bleibt Nationaldichter

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Tilman Krause

Sein neuer Roman "Muttersohn" wird an Martin Walsers Rang nichts ändern. Denn literarischer Ruhm ist eine Sache des Glaubens.

Er stand auf dem Zenit seines Ruhms. Soeben hatte er, nach mehreren Jahrzehnten größter Strahlkraft als Lehrmeister zweier, wenn nicht dreier Generationen, den Literaturnobelpreis erhalten. Da wurde André Gide im Jahre 1947 von einem Journalisten gefragt, ob er denn nun endgültig in seinem Rang als größter Dichter Frankreichs bestätigt sei. Der Dichter, der stramm auf die 80 zuging, gab ein wenig missmutig zurück: "Wie kommen Sie darauf? Der größte Dichter Frankreichs, das ist doch nach wie vor Victor Hugo; was wollen Sie."

Man kann das französische "hélas", das Gide seiner Antwort hinterherschickte, statt mit "was wollen Sie" auch mit "leider" übersetzen, oder, für Comic-Leser, mit "seufz". Man kann es auch, auf Albert Einstein zurückgreifend, übersetzen mit "Na, wenn schon".

Der größte Dichter Frankreichs ist – Victor Hugo

In diese Worte fasste der Entdecker der Relativitätstheorie seinen Eindruck von einer Gerhart-Hauptmann-Festaufführung aus Anlass von dessen 70. Geburtstag – damit "die treffendste Formulierung des Gefühls, das sie auslöste" findend, wie Harry Graf Kessler kommentierte. Der kolportiert nämlich die Anekdote in seinem Tagebuch. "Was wollen Sie; leider; na, wenn schon": Der Sinn ist immer derselbe. Der Sinn ist folgender: Man muss es eben hinnehmen; man kann nichts dagegen tun.

Künstler, Liebhaber, Sachverständige der Literatur, wenn sie sich zu Fragen des literarischen Ranges äußern sollen, geraten einfach von Natur aus in die Defensive. Sie müssten eigentlich sagen: Das neue Altersstück von Gerhart Hauptmann ist genauso unbedeutend wie die drei, vier letzten davor. Der Titel "größter Dichter Frankreichs" müsste, wenn es in der Welt mit rechten Dingen zuginge, an einen Molière oder Baudelaire, Stendhal oder Proust gehen.

Ein ähnlicher Fall ist Gerhart Hauptmann

Aber wir wissen ja, wie es läuft. Am Ende macht eben doch ein Victor Hugo das Rennen. Am Ende bleibt ein Gerhart Hauptmann, so lange er lebt, persona gratissima bei seinen lieben Deutschen, auch wenn ihm Kollegen wie Thomas Mann, Robert Musil, Franz Kafka längst den Rang ablaufen.

Und da darf denn auch ein Martin Walser (neben seinem unähnlichen Bruder in der Wahrnehmung Günter Grass) als "deutscher Schriftsteller schlechthin" gelten, wie kürzlich in einem überregionalen Blatt zu lesen war. Ja, er kann sogar als Gottbegnadeter vorgestellt werden, der uns nun, mit seinem jüngsten Roman "Muttersohn", seine "zehnte Sinfonie" schenkt.

So griff ein anderer Kollege in die Harfe, wohl (hoffentlich!) wissend, dass die "zehnte Sinfonie" jenes allergrößte Meisterwerk bezeichnet, das arme Tröpfe wie Beethoven, Bruckner oder Mahler nicht mehr schafften, ein Martin Walser, ihnen turmhoch überlegen, aber natürlich mühelos hinpfeffert.

Missverhältnis zwischen Ruhm und Qualität

Die Rede geht also von einem Missverhältnis. Es ist das Missverhältnis zwischen Ruhm und Qualität. Prestige und künstlerischer Bedeutung. Es handelt sich, dies festzuhalten ist nicht ganz unwichtig, keineswegs um "german otherness", wie ja ohnedies unsere Sonderwege sich bei näherem Hinschauen oft genug als keineswegs so spezifisch deutsch entpuppen, wie Leute glauben, die immer nur auf die Verhältnisse hierzulande starren.

Frankreich, England, Amerika haben es nicht besser. Auch dort weiß man, dass auf lange Sicht das Rennen macht, wer vor allem drei Bedingungen erfüllt: Er muss, das ist am allerwichtigsten, durchhalten, muss unablässig Buch um Buch von sich geben und das Jahrzehnte lang. Er sollte sodann in seiner Jugend aufmüpfig sein, um schließlich auf seine alten Tage kräftig mit dem Strom zu schwimmen, so dass sich jung und alt in ihm wiederfinden können.

Die Antipode heißt Günter Grass

Und er muss sich einmischen in die Medien, in die Politik – dann wird ganz Paris auf den Beinen sein, wenn er, Victor Hugo, als Patriarch von 85 Jahren mit einem Staatsbegräbnis geehrt wird; dann wird man ihn, Gerhart Hauptmann, als Präsidentschaftskandidaten aufstellen und sich daran erfreuen, dass er mit jedem seiner langen Jahre dem Überdichter Goethe immer ähnlicher sieht; dann wird man ihn, Martin Walser, als unseren "Nationaldichter" preisen – bis, ja bis sein Antipode Günter Grass ein neues Buch herausbringt und nun seinerseits die Bezeichnung ans Revers geheftet bekommt.

Die Sehnsucht nach dem Repräsentativen war zu allen Zeiten und in allen Ländern groß. Sie ist im demokratischen Zeitalter, das Thomas Mann einmal spitzzüngig als "von persönlicher Größe unbeaufsichtigt" charakterisierte, womöglich noch größer geworden. Wie sonst ließe sich erklären, dass Martin Walser, Günter Grass und, jawohl, auch er gehört in diese Reihe: Ernst Jünger in den letzten Jahren eine geradezu gespenstische Verehrung auf sich ziehen?

Ernst Jünger war ein mäßig begabter Autodidakt

Um mit dem letzteren zu beginnen: Ernst Jünger war ein schreiberisch mäßig begabter Autodidakt, der erst aus seinen Erfahrungen im Ersten Weltkrieg, dann aus seinem Beiseitestehen während der Nazi-Zeit und schließlich aus seinem Unverhältnis zur bundesrepublikanischen Mittelstandsgesellschaft die Attitüde des großen Einsamen und Darüberstehers ableitete, die schon den ästhetisch anspruchsvolleren Zeitgenossen seiner mittleren Jahre unangemessen schien. "Mehr Timmendorfer Strand als Portofino", ätzte beispielsweise Gottfried Benn, der um 1950 das Pech hatte, mit Jünger oft in einem Atemzug genannt zu werden.

Peter de Mendelssohn, Peter Wapnewski und viele andere sind in den Jahrzehnten danach nicht müde geworden, den "Herrenreiter-Tiefsinn" des erklärten "Waldgängers" auf Plattitüden und schiefe Metaphern zurückzuführen, die eigentlich, wie Martin Gregor-Dellin einmal bemerkte, nur in französischer Übersetzung einigen rhetorischen Glanz gewinnen. Allein, es hat dem Ansehen des Patriarchen von Wilflingen nicht im Mindesten geschadet.

Die Rolle Heiner Müllers in der DDR

Als auch noch der Vorzeige-Intellektuelle der DDR-Literatur nach der Wende, Heiner Müller, seine Faszination für den "Anarchen" Ernst Jünger bekundete, war selbst bei eher linken, jüngerresistenten Lesern irgendwann kein Halten mehr: In den letzten Jahren vor seinem Tod galt der Mann, der das ganze schreckliche 20. Jahrhundert überblickte, als eine Art Übervater der deutschen Literatur, obwohl seine Lebensleistung doch im wesentlichen eine biologische, bestenfalls die der Zeitzeugenschaft war.

Martin Walser (um für dieses Mal von Günter Grass zu schweigen) ist ein in manchem ähnlicher Fall. Auch er ist, wie der Verfasser der "Stahlgewitter", zunächst von der Zugehörigkeit zu einer Bewegung getragen worden: Anders als nach dem Ersten Weltkrieg, der die Energien der desorientierten ehemaligen Soldaten in Freicorps, paramilitärischen Verbänden und allerhand antidemokratischen Umtrieben band, war es nun im Gegenteil das demokratische Umerziehungsprogramm, das sich vor allem Schriftsteller, die in der Gruppe 47 zusammenkamen, auf ihre Art zueigen machten.

Kafka-Epigone mit Erzählband

Walser, gemessen an Hans Werner Richter, Alfred Andersch oder sogar noch Heinrich Böll, war einer der jüngeren unter ihnen und stand im Grunde nie im Fokus. Er schwamm so mit, als Kafka-Epigone mit seinem ersten Erzählband, als Vertreter des Anti-Romans mit seinen ersten größeren Hervorbringungen wie "Ehen in Philippsburg" (1957) oder "Halbzeit" (1960).

Von letzterem, einem unlesbaren Ungetüm, das allenfalls von der Bereitschaft kündete, den damals angesagten "kritischen Blick" auf das "satte" Wirtschaftswunder-Deutschland zu richten, ist aus gutem Grund vor allem Friedrich Sieburgs berühmte Verriss-Überschrift geblieben: "Toter Elefant auf einem Handkarren".

Martin Walser ist der breiteren Öffentlichkeit denn auch eher als politischer Kommentator bekannt geworden: Er gab 1961 das Manifest-Bändchen "Die Alternative" heraus, mit der die "Ära Adenauer" zu Grabe getragen werden sollte. Er kokettierte mit seinen Sympathien für die DKP. Als Erzähler stand er im Schatten der wesentlich erfolgreicheren und auch bei der Kritik mit Recht angeseheneren Heinrich Böll und Uwe Johnson.

Der Erfolg kam mit "Ein fliehendes Pferd"

Ein Publikumsliebling wurde er erst mit seiner Novelle "Ein fliehendes Pferd" , wahrscheinlich der beste, in jedem Fall aber der konzentrierteste, am stringentesten durchkomponierte Text, den er je geschrieben hat. Da war der Autor 50 Jahre alt.

Was seitdem folgte, waren jahraus, jahrein mal mehr, mal weniger überzeugende, mal mehr oder weniger witzige (seine große Stärke!) Gesellschaftsromane aus der Welt der Angestellten, die sich oft sogar im Titel bis zur Verwechselbarkeit ähnelten ("Der Lebenslauf der Liebe", 2001; "Der Augenblick der Liebe", 2004; "Ein liebender Mann", 2008) und auch entsprechend oft verwechselt worden sind. In guter Erinnerung bleibt der erste "Muttersohn"-Roman, "Verteidigung der Kindheit" von 1991, in weniger guter die romangewordene Abrechnung mit Marcel Reich-Ranicki ("Tod eines Kritikers", erschienen 2005).

Paulskirchenrede und "Kritiker"-Streit

Zu schweigen von der fragwürdigen Paulskirchen-Rede, in der sich Walser gegen die angebliche Dauerpräsenz von Auschwitz im Fernsehen wendete, als seien nicht schon damals die Guido Knopps mit ihren Geschichtssendungen über deutsche Täter bildbestimmend gewesen, oder, gedanklich ebenso dürftig, sein Goethe-Roman , der hübsch ist, wo er Gesellschaftsszenen aufbietet, aber befremdet, wenn er die Sublimationsmechanismen des alten, in seiner Liebe zu Ulrike von Levetzow unglücklichen Goethe als "Kulissenschieberei" abtut und sich anmaßt, mittels fiktiver Briefe in die Haut des größeren Kollegen zu schlüpfen, dabei Texte produzierend, die von Goethe’scher Differenziertheit soweit entfernt sind wie ein Handy-Jingle von, sagen wir, Mahlers (unvollendeter) 10. Sinfonie.

Aber das macht nichts. Das alles hat Ruhm und Prestige von Martin Walser nicht beschädigen können. Weil niemand in ihm den bedeutenden Schriftsteller erblicken will, der die künstlerischen Debatten befeuernde Werke schreibt. Martin Walser soll Instanz sein. Er soll die bundesrepublikanische Literatur in ihren Wegen, Wandlungen, Verwirrungen verkörpern, und das tut er. Er soll der elder statesman, der gute Papa Heuß, der Alte vom Bodensee sein, und das ist er. Im Grunde kann er jetzt schreiben, was er will. Und tut’s ja auch.

Sein jüngstes Werk, der Roman "Muttersohn", der am 12. Juli im Rowohlt-Verlag herauskommen wird, handelt von der Anderswelt des Glaubens, von der Anderswelt der Musik (zwei bislang nicht von Walser bearbeitete Themen) – und zeigt genau dort seine Stärken.

Der nationale Kanon antwortet auf kollektive Bedürfnisse

Aber auch die sattsam bekannten Walser’schen Schwächen wie seine Geschwätzigkeit und ausufernde, sich verselbständigende Nebenstränge gibt es hier zuhauf. Doch groß wird Walser in "Muttersohn" immer da, wo er mit unerschütterlichem Eigensinn verblüfft. Groß ist er beispielsweise da, wo er den Reliquienkult der katholischen Kirche verteidigt oder seinen Hauptprotagonisten, den Krankenpfleger Percy Anton Schlugen, als modernen Messias entwirft, der in unbefleckter Empfängnis auf die Welt kam. Je aberwitziger, desto besser.

Wer es verstehen kann, der verstehe es. Und wer das nicht tut, der warte auf den nächsten Roman, der unweigerlich kommt – und gleichfalls nichts mehr an Walsers Status ändern wird, auch wenn er, was nicht auszuschließen ist, wieder einmal eher misslingt. Denn mit der literarischen Größe, mit dem Nationaldichtertum ist es wie mit dem Glauben: Es handelt sich hier um das Andere der Vernunft. Was wollen Sie, na wenn schon, seufzen Sie, soviel Sie wollen.

Man muss es eben hinnehmen. Seinen eigenen persönlichen Kanon kann ja trotzdem jeder bestücken, wie er will. Mehr noch: Er muss. Denn der nationale Kanon antwortet auf kollektive Bedürfnisse. Der wahre Leser aber ist immer Individualist.