Der Mann hat frischen Wind in die 70er Jahre geblasen. Er hat die Querflöte als eigenständiges Instrument in der Rockmusik etabliert und selbst größte Zweifler mit seinem virtuos-rauen Spiel überzeugt. Plötzlich war dieser lange Silberstab nicht mehr allein das sadistische Utensil, mit dem liebesbewegte Hippies zu Bongoklappern akustisch ihre Umwelt geißelten. Der schottische Rock-Gaukler Ian Anderson hat mit seiner unnachahmlichen, von mit Stimmfetzen, Grunzen und Keuchen durchsetzten Spielweise und pointiertem, ironiegesättigtem Gesang die Rockwelt ein gewichtiges Stück aus den Angeln gehoben. Und mit Jethro Tull richtungweisende Alben wie „Stand Up“, „Aqualung“ oder „Thick As A Brick“ aufgenommen.
So weht durch das Konzert von Jethro Tull, zu dem am Donnerstagabend rund viereinhalb Tausend Besucher in die Spandauer Zitadelle gepilgert sind, der abgeklärte Atem der Erinnerung. Das Publikum kann mit dem Altersdurchschnitt auf der Bühne durchaus mithalten, die Songs sind allen sattsam vertraut und selbst die Zimmerlautstärke von der Bühne scheint altersgerecht. Sätze wie „Sei doch mal ein bisschen ruhiger, ich kann ja kaum was hören“ fallen ansonsten eher selten bei Rockkonzerten. Der Applaus schwillt mächtig an, als Ian Anderson die von stetem leichtem Regen begleitete Show mit „Nothing Is Easy“ eröffnet.
Der 62-Jährige hat sie drauf, die Posen, die man sehen will, er geht in die Knie, er dirigiert die Band mit seiner Querflöte, stolziert breitbeinig über die weite Bühne. Der zwischen Blues und Jazzrock pendelnde Auftaktsong vom „Stand Up“-Album ist nun auch schon mehr als 40 Jahre alt, klingt aber frischer als so manches, was einem heute aus den Studios in die Ohren gedrängt wird. Experimente stehen bei Ian Anderson allerdings nicht auf dem Programm. Hier wird ein reichhaltiges Hitrepertoire aufgetischt. Alles wird korrekt und handwerklich sauber serviert, die raue Energie, die der feinsinnig abwechslungsreich arrangierten Musik von Jethro Tull einst innewohnte, ist einer routinierten Versiertheit gewichen.
Vielleicht sagt es ein Song wie „A New Day Yesterday“, ebenfalls vom „Stand Up“-Album, am besten: „Gestern war es noch ein neuer Tag, doch heute ist jener Tag schon alt“. Die unbändige Frische, die diese immer schon leicht barocken Gruppe einst auszeichnete, ist jetzt einer eher gesetzten Interpretation eigener Erfolge gewichen. Was den imposanten Stellenwert Jethro Tulls im Haus des Rocks keineswegs schmälert. Die Musiker sind exzellent. Gitarrist Martin „Lancelot“ Barre gehört seit 1968 dazu, Schlagzeuger Doane Perry seit 1985. Seit drei Jahren komplettieren Bassist David Goodier und Keyboarder John O’Hara die aktuelle Besetzung, die sich ganz ihrem Herrn und Meister an Flöte, Gitarre und Stimme unterordnet.
Der zitiert seine musikalischen Wurzeln mit dem Instrumentalstück „Serenade To A Cuckoo“ von Jazzflötist Rashaan Roland Kirk, spielt seine Adaption der „Bourrée“ aus Bachs „Suite für Laute in e-Moll“ (BWW 996) als, wie er ankündigt, swingende „sleazy cocktail version“ und macht mit Blick auf die vielen aufschnappenden Schirme das Titelstück des 1976er-Albums „Songs From The Wood“ zur Regenballade. Das klingt alles in Ordnung und wie aus einem Guss, aber mitunter seltsam behäbig; wie Arbeit, die getan werden muss, obwohl sie eigentlich nicht mehr die Freude bereitet wie noch vor Jahrzehnten.
Jethro Tull waren stets für Überraschungen gut, haben im Laufe ihrer Karriere immer neue stilistische Luftsprünge gemacht, sie wurden als Prog-Rock, Art-Rock und Classic-Rock gehandelt. Sie kokettierten mit Hardrock, Folkrock und auch klassischer Folklore. Sie haben mit „Aqualung“ und später mit „Thick As A Brick“ das Konzeptalbum kultiviert, sie haben sich mächtig mit Synthesizern auseinandergesetzt und später mit World-Music, wie beim Stück „A Change Of Horses“, das sie mit Sitarspielerin Anoushka Shankar aufgenommen haben. In der Zitadelle muss Gitarrist Martin Barre nun als „the next best thing next to Anoushka“ den Sitar-Part auf der E-Gitarre übernehmen.
Der Applaus ist wohlwollend gedämpft, freilich drückt auch das feuchte Wetter etwas auf die Stimmung. Das ändert sich, als mit „Cross-Eyed Mary“ endlich etwas Druck in die Show kommt. Es scheint tatsächlich auch etwas lauter zu werden; oder hat sich der Wind nur gedreht? Zumindest Martin Barre dreht etwas auf und lässt die kantigen Riffs brummen. Das religionskritische Stück „My God“, wie „Cross-Eyed Mary“ vom „Aqualung“-Album, mündet schließlich ins Finale, den „Aqualung“-Titelsong um jenen verlotterten Landstreicher, der um die Häuser zieht und dabei jungen Mädchen hinterhergiert. Es war einer der größte Hits von Jethro Tull und Ian Anderson weiß, warum er die 90-minütige Show damit beendet.
Aber er weiß auch – das macht diesen Abend so absehbar – dass noch etwas fehlt. Natürlich jubelt das Publikum um Zugaben. Und natürlich rattert das stampfende „Locomotive Breath“ durch die Dämmerung und bringt das Publikum noch einmal in Bewegung. Auch wenn die Luft bei Jethro Tull inzwischen etwas raus zu sein scheint – der Schlussapplaus klingt dankbar und zufrieden.