In Berlin wird ständig gebaut, doch oft nicht innovativ. Das ist vor allem dem früheren Senatsbaudirektor und seinen festgezurrten Regeln zu verdanken. Grundsätzlich gelten diese noch immer. Quadratisch und praktisch soll es sein. Doch einige Architekten halten den Verhandlungsmarathon durch, um Modernes nach Berlin zu bringen.

Roger Bundschuh ist ein Pionier. Der Architekt leitet an der Ecke Rosa-Luxemburg-/Torstraße ein Projekt, das wegweisend werden könnte für ein neues Bauen in der Hauptstadt. Eines, das die Senatsvorgaben zur „kritischen Rekonstruktion“ der Berliner Innenstadt teilweise ignoriert. Jene seit den 90er-Jahren gültige Maxime zur Einhaltung einer geschlossenen Blockrandbebauung etwa oder einer einheitlichen Traufhöhe. Und die zum Sinnbild des „steinernen Berlin“ wurden, das unkonventionelle Architektur selten zuließ.

Bundschuhs hypermodernes Gebäude ignoriert viele der Berliner Bauvorgaben. Das Haus ist ein Tabubrecher, denn es sprengt das Dogma einer uniformen Traufhöhe. In der Fassade klafft ein überdimensionaler Spalt, der das Haus über mehrere Etagen teilt. Durch die Aussparung entstand am nördlichen Ende des Baues ein über drei Etagen reichender Wohnturm, der das restliche Gebäude überragt. Ungewöhnlich auch: Zur Rosa-Luxemburg-Straße hin verfügt das Haus über nur wenige Fenster. Hinter der Fassade verbirgt sich eine „long gallery“ zum Hängen von Kunst, ein Raum, der nur durch Aussparungen in der Decke Licht erhält und den ein Sammler nutzen wird.

An anderen Stellen Berlins wäre zwar ebenfalls das Geld für moderne Architektur vorhanden, aber es fehlt der gesellschaftliche Konsens, dies tun zu wollen. Ein Beispiel dafür liefert die Staatsoper. Eine unabhängige Jury votierte für einen neuen Zuschauersaal. Doch der Verein der Freunde der Staatsoper lehnte dies ab. „Die Bürger Berlins lassen sich eben von keiner Architektenjury bonbonfarbene Tristesse aus Beton und Edelstahl vorsetzen“, erklärte Freundeskreis-Vorsitzender Peter Dussmann. Um dies zu bekräftigen, lieferte der Verein sogleich das Ergebnis einer von ihm in Auftrag gegebenen Umfrage nach. Danach ist die Mehrheit der Berliner für den Erhalt des alten Zuschauersaals.

Reihenweise austauschbare Häuser wurden gebaut

Bundschuhs Bau steht dagegen nicht für Traditionelles, sondern für eine wagemutige, unkonventionelle Architektur, die seit Langem in Berlin kaum möglich war. Weil Senatsbaudirektor Hans Stimmann das Sagen hatte und aus den von ihm beaufsichtigten Wettbewerben fast immer dieselben Architekten als Sieger hervorgingen. Jene, die reihenweise austauschbare Bauten schufen, die sich mit ihren Sandstein-Rasterfassaden kaum voneinander abhoben.

Der schnauzbärtige Staatssekretär, der 2006 in den Ruhestand ging, verfocht eherne Regeln für Neubauten – die Einhaltung der Traufhöhe wurde zu einer Art Grundgesetz. Ein Bruch in der Fassade wie beim Bundschuh-Bau war unter Stimmann fast undenkbar. Sicher, es gab Ausnahmen. Etwa bei der neuen Botschaft der USA, der die Architekten Moore/Rubble/Yudell ebenfalls einen Spalt in der Fassade zum Pariser Platz hin verpassten. Aber dort baute auch eine Supermacht. Ein paar Meter weiter rang die Akademie der Künste monatelang um ihren von Günter Behnisch gestalteten Bau. Stimmann lehnte dessen Glasfassade ab. Nur durch die Ausnahmegenehmigung des damaligen Bausenators Jürgen Klemann konnte der Bau realisiert werden.

Kämpfe um die Architektur gab es auch an weniger hervorgehobenen Plätzen Berlins, zum Beispiel in Kreuzberg, wo die Wohnungsgesellschaft GSW einen Dauerkampf mit Stimmann um ihren Entwurf für eine neue Zentrale ausfocht. Die Architekten Sauerbruch und Hutton entwarfen ein Ensemble, das sich überhaupt nicht in Stimmanns Doktrin der Blockrandbebauung fügte. Gebaut wurde es dennoch, denn die GSW kämpfte um das Projekt. Sauerbruchs Haus wurde seither zu einem Wallfahrtsort für Architekturstudenten.

Architekt Philip Johnson kam nie wieder nach Berlin

Unkonventionelle Architektur blieb in Berlin seit dem Mauerfall insgesamt die Ausnahme. Dies bekamen auch Baumeister von Weltrang wie Philip Johnson zu spüren, der 1929 in Berlin studiert hatte und Mitte der 90er-Jahre für den Checkpoint Charlie ein Bürogebäude in Form einer übergroßen zerknautschten Plastik entwarf. Stimmann blockierte den Entwurf. Johnson erklärte daraufhin: „Ich komme nie wieder!“ Und er kam nie wieder nach Berlin.

Stimmann ist seit 2006 nicht mehr im Amt, aber Architekten wie Bundschuh haben es deshalb keineswegs leichter, ihre Projekte genehmigt zu bekommen. „Wir mussten sehr viel reden“, sagt der Architekt. Es ist fast untertrieben. Drei Jahre dauerte die Planung für sein Haus. Von Stimmanns Amtsnachfolgerin Regula Lüscher über Mittes Baustadtrat Ephraim Gothe bis hin zu Vertretern des Denkmalschutzes sprach Bundschuh mit fast allen relevanten Personen, die beim Bauen in Mitte etwas zu sagen haben. „Unter Stimmann wäre das wohl nie durchgegangen“, resümiert Bundschuh.

Ein Projekt als kleine Narrtei

Es ist ein kleines, unscheinbares Büro, in dem Bundschuh arbeitet, eine in einem Plattenbau eingerichtete Denkerklause, die aus Architektensicht noch das Träumen zulässt. Sein Entwurf für das Haus an der Torstraße sei ein „übergroßes Folie", eine Art Spaß, eine kleine Narretei, sagt Bundschuh. Dass er experimentieren konnte, verdankt er seinem Auftraggeber, der Hachmann-Hausverwaltung, die das Geld und die Geduld hatte, einen solch extravaganten Bau durchzusetzen.

Und so konnte Bundschuh das tun, was viele andere Architekten angesichts eines meist nach reinem Nutzwert ausgerichteten Immobilienmarktes selten schaffen: „mit der Form zu spielen und etwas Neues zu schaffen“. Rund fünf Millionen Euro ließ sich dies die Hachmann-Verwaltung kosten.

Grundsätzlich scheint die Ausgangslage für modernes Bauen in Berlin nicht schlecht. So scheiterte vor wenigen Tagen die Gesellschaft Historisches Berlin damit, ein Volksbegehren auf den Weg zu bringen, das neue Bauten in Mitte weitgehend unmöglich gemacht hätte. Die Gesellschaft bekam für den Start des Volksbegehrens nicht genügend Unterschriften zusammen.

Was ist zeitgenössisch?

Will der Senat aber künftig mehr Freiheit beim Bauen zulassen? „Mich interessieren zeitgenössische Antworten auf die aktuellen Herausforderungen an Architektur und Städtebau. Dabei geht es nicht nur um eine zeitgenössische Gestaltung, sondern auch um klimagerechtes innovatives Bauen für die urbane Gesellschaft“, sagt Stimmann-Nachfolgerin Regula Lüscher.

Unklar bleibt, was sie unter „zeitgenössisch“ versteht. Ob es die alten, von Stimmann verfochtenen Regeln sind oder ob moderne wegweisende Bauten möglich werden.

In den eineinhalb Jahren ihrer Arbeit blieb Lüscher weitgehend unsichtbar, ging Interviews aus dem Weg, fast hat man den Eindruck, sie scheue ein Bekenntnis zu dem, was sie als Senatsbaudirektorin für Berlin will. Ganz anders war Stimmanns Präsenz, den man häufig durch Mitte radeln sah. Nicht selten mit hochrotem Kopf vor einem Bauprojekt stoppend, wenn er wieder mal etwas entdeckt hatte, das seinen Unmut auf sich zog. Es war die Ära, als aus Wettbewerben fast immer dieselben Gewinner hervorgingen, deren Ergebnisse meist ähnlich aussahen. Raster-Bauten mit Sandsteinfassade: quadratisch und praktisch, aber oft von beliebiger Gestalt. Keine zeitgenössischen „Landmarks“ wie in Bilbao, London, Shanghai oder Dubai. Berlin setzt auf Bewährtes im Städtebau und vergisst darüber das Gefühl für eine Architektur des Aufbruchs. Vergessen die Zeit, als in Berlin in den 20er-Jahren die großen tonangebenden Architekten der Moderne arbeiteten.

Seit Philip Johnsons wortgewaltigem Abgang entstanden in Berlin wenige wegweisende Bauten, denn die Stimmannschen Vorgaben gelten weiter. Aktuell plagen sich mit ihnen die Architekten Eike Becker und der Designer Philippe Starck ab, die am Schiffbauerdamm ein Wohnhaus errichten wollen. Die Stadt wünscht eine Sandsteinfassade, der Bauherr eine aus Aluminium und Glas. Ergebnis offen.

Roger Bundschuh würde in Berlin gern mehr Wagemut beim Bauen sehen. Er sagt: „Ich glaube nicht an eine deterministische Planung, denn sie ist nur schwer mit einer freien Gesellschaft zu verbinden, die auch Experimente beim Bauen zulassen muss. Selbst unter der Gefahr, dass diese scheitern.“