Berlin. In Wilhelmsruh ist der Bau eines Quartiers wegen Gestanks geplatzt. Nun wehren sich Anwohner gegen den Mief – mit einer App.

Mal riecht es nach Kakao und Kaffee, mal nach Brötchen. Aber leider sind da eben auch unappetitliche Duftnoten von Müll und Schrott: Wilhelmsruh, ein Ortsteil in nächster Nähe des Reinickendorfer Industriegebiets Flottenstraße, kommt für den Bau eines neuen Quartiers mit 400 Wohnungen und Kita nicht mehr in Frage. Gesetzliche Vorgaben für „gesunde Wohnverhältnisse“ geben es laut eines Geruchsgutachtens nicht her. Wer aber jetzt schon in Wilhelmsruh wohnt – und das sind mehr als 8000 Menschen – muss mit dem Industriegestank leben. Vorerst. Denn der Senat will die Situation noch einmal genauer untersuchen und die Wilhelmsruher Protokoll führen lassen. Einfach gesagt: Sie sollen handschriftlich notieren, wie und wie lange es riecht. Die Bürgerinitiative "Wilhelm gibt keine ruh" wiederum hat eine modernere Idee: und setzt auf eine digitale Geruchsmeldung.

"Frischluftheld:in" nennt sich eine neu entwickelte Online-Anwendung, die das Protokollieren des Gestanks aus Reinickendorf vereinfachen soll. Auch der Pankower SPD-Abgeordnete Torsten Hofer empfindet diese Lösung als praktisch und effektiv. Das Problem: Die App entspricht nicht ganz den formellen Vorgaben für Beschwerden, wie Hofer durch eine parlamentarische Anfrage erfuhr. Streng genommen müssten die Daten aus der App deshalb in ein bestimmtes Dokumente übertragen werden.

App der Pankower Bürger ist für den Senat keine "Erkenntnisquelle"

"Um eine korrekte Auswertung der Geruchsereignisse vornehmen zu können, sind Angaben über Beginn und Ende des Geruchseindrucks wichtig. Dafür enthält der von der der Senatsverwaltung für Umwelt, Verkehr und Klimaschutz an Beschwerdende ausgegebene Geruchserfassungsbogen entsprechende Spalten", beschreibt Staatssekretär Stefan Tidow das richtige Verfahren. Sowohl Beginn als auch Ende der "Geruchswahrnehmung" sollten in den Spalten erfasst sein. Daraus werden dann "Geruchsstunden" errechnet. Denn sie sind die maßgeblich Größe für eine Entscheidung darüber, ob es zu sehr stinkt.

Den offiziellen Bogen sollen Bürger herunterladen und händisch ausfüllen - einschließlich der wichtigen Spalten. Als "Erkenntnisquelle" könne die App offizielle Bögen nicht ersetzen, heißt es vom Senat. Trotzdem akzeptiert die Verwaltung auch die ersten Daten aus der App und wertet die Geruchsmeldungen bereits seit Ende September 2020 aus. Sie rechtfertigen laut Tidow sogar "die Veranlassungen von weiteren Maßnahmen" - nämlich eine neue Vor-Ort-Überprüfungen durch Experten.

Anwohner sollen Gestank in Wilhelmsruh auf Papier erfassen

Torsten Hofer wertet das als überraschenden Erfolg der Wilhelmsruher Initiative und schlug vor, die Frischluftheld:in-App zur Gestanksmeldung direkt auf der Seite der Umweltverwaltung zu verlinken. Aber weil sie die formellen Kriterien wegen der fehlenden Spalten nicht erfülle, sei dies abgelehnt worden. "Der Senat betrachtet die App lediglich als Ergänzung für das ordnungsbehördliche Handeln", bedauert Hofer. Und befürchtet, dass sich die Auswertung von womöglich Tausenden handschriftlichen Bögen zu Geruchsbeschwerden als schwieriger erweisen könnte. Aber eventuell lässt sich die App auch um die fehlenden Details zur Zeiterfassung des Gestanks erweitern.

Und was kam bei der ersten Auswertung der per App gesammelten Geruchsbeschwerden heraus? Es stinkt tatsächlich. Aber nicht so penetrant wie es manch geübte Nase empfindet. Hochgerechnet auf ein Jahr ergeben die Erfassungen eine so genannte Geruchsstundenhäufigkeit von vier bis sieben Prozent. Als Grenzwert für Wohngebiete gelten allerdings zehn Prozent. Und somit läge das Ergebnis noch knapp innerhalb der Norm. Weil nicht die Beschwerden der Bürger nicht gleichmäßig zu allen Tages- und Nachtzeiten eingereicht wurden, könnte das tatsächliche Problem auch größer sein. So oder so - weitere Analysen für die bestehenden Siedlungsgebiete werden folgen.

400 neue Wohnungen am Wilhemsruher Tor weiterhin chancenlos

Und was gibt es Neues beim gescheiterten Neubauprojekt Wilhelmsruher Tor mit 400 Wohnungen? Pankows Baustadtrat Vollrad Kuhn (Grüne) dämpft die Erwartungen, dass dieses Vorhaben doch noch gelingen könnte, indem man Industriebetriebe in der Reinickendorfer Flottenstraße zur einer moderneren Entrauchung verpflichtet. Und die Geruchsbelästigung so an der Quelle bekämpft.

Bei einer aktuellen Besprechung mit dem Senat habe er die Bestätigung bekommen, dass die Betriebe im Gewerbegebiet bereits auf dem Stand der Technik sind. Damit wären die Hoffnung auf eine Lösung des Problems zum Beispiel durch eine bessere Filtertechnik bei den Betrieben geplatzt. "Die Möglichkeiten bei passivem Imissionsschutz sind nur gering", sagt Kuhn. Unter diesen Bedingungen wären am Wilhelmsruher Tor wohl höchstens ein Büro-Projekt denkbar.

Das aber wollen die Investoren nicht. Sie hatten schließlich mehrere Jahre vorgeplant, um die 400 neuen Wohnungen zu bauen - bis das Geruchsgutachten 2019 diese Absicht durchkreuzte. Tatsächlich will auch Stadtrat Kuhn lieber Wohnungen als Büros. Er sieht aber keine Einflussmöglichkeit auf den Betrieb des Gewerbegebiets in Reinickendorf, das Bestandsschutz genießt.

Wie stark die Zweifel an der negativen Deutung des Geruchsgutachtens für das Wilhelmsruher Tor sind, zeigt die Haltung der Pankower Bezirksverordneten. Sie haben zuletzt mit großer Mehrheit einen Antrag von CDU und SPD beschlossen, wonach der Bezirk alle Möglichkeiten ausschöpfen soll, das Wohnprojekt doch noch zu retten. "Es ist eines der wenigen Vorhaben in Pankow, das von Bürgern nicht bekämpft wird, sondern erwünscht ist", sagt dazu der SPD-Verordnete Mike Szidat. Auch Wolfram Kempe von der Linken sieht im Gestanksproblem "eine schwere Bürde für Wilhelmsruh", die man den Menschen abnehmen muss. Und CDU-Fraktionschef Johannes Kraft sagt: "Wir möchten am Ziel Wohnen festhalten. Pläne, auf Gewerbe umzuschwenken werden in diesem Haus keine politische Mehrheit finden."