Berlin. Angehörige des vor sieben Jahren in Neukölln erschossenen Burak Bektaş und eine Initiative zur Aufklärung des Mordes fordern einen Parlamentarischen Untersuchungsausschuss, der die Arbeit des Landeskriminalamtes (LKA) Berlin beleuchten soll. Der 22-jährige Bektaş wurde am Abend des 5. April 2012 unweit von seinem Zuhause im Süden Neuköllns auf offener Straße von einem Unbekannten getötet, als dieser gezielt und scheinbar ohne Motiv auf die Jugendlichen schoss. Alex A. und Jamal A., damals 16 und 17 Jahre alt und mit Bektas unterwegs, wurden schwer verletzt. Bektaş erlag später im Krankenhaus seinen schweren Verletzungen.
Kritik an Berliner Ermittlungsbehörden
Die „Initiative zur Aufklärung des Mordes an Burak Bektaş“ und der Anwalt der Familie übten bei einer Gedenkveranstaltung am vergangenen Sonntag heftige Kritik an den Berliner Ermittlungsbehörden. Zum einen warfen sie der Polizei vor, dem Verdacht auf ein rassistisches Motiv in den Ermittlungen nicht ausreichend nachgegangen zu sein. Außerdem bezeichneten sie die Ermittlungen als oberflächlich. So seien wichtige Kameraaufzeichnungen aus der Tatnacht nicht rechtzeitig gesichert und mögliche Zeugen nicht oder erst spät befragt worden. Es habe sich außerdem durch parlamentarische Anfragen ergeben, dass es neben der Ermittlungsakte zum Fall Burak Bektaş noch eine weitere Akte geben muss, die der Familie Bektaş vorenthalten werde, so der Vorwurf.
Anwalt fordert Einsicht in alle Akten
Lukas Theune, Anwalt der Familie, erklärte im Gespräch mit der Morgenpost, sie schlössen dies aus einem Vermerk in der Ermittlungsakte: Dieser besage, dass zusätzlich zur Mordkommission, dem LKA 1, auch der polizeiliche Staatsschutz, das LKA 5, im Fall Burak Bektaş ermitteln sollte. Man sei also davon ausgegangen, dass es bei dem Mord einen politischen Hintergrund gebe. „Was der Staatsschutz gemacht hat, weiß man aber nicht, diese Akte kennen wir nicht“. Anwälte und Initiative forderten, die Akten zusammenzuführen.
Die Polizei verweist bei Nachfragen auf die Staatsanwaltschaft. Dort blieben Nachfragen der Berliner Morgenpost bis Redaktionsschluss am Dienstagabend unbeantwortet.
200 Menschen gedachten in Neukölln des Ermordeten
Anlässlich des Gedenkens an den Mord kamen am vergangenen Sonntag rund 200 Menschen an den wenige Meter vom Tatort entfernten Gedenkort für Burak Bektaş. Auf einer Grünfläche steht die 2018 eingeweihte Skulptur der Künstlerin Zeynep Delibalta. Es kamen Angehörige von Bektaş, Freunde, Betroffene rassistischer Gewalt, Nachbarn und Menschen, die sich in Berlin gegen Rechtsradikalismus engagieren. In diesem Jahr stand vor allem die fehlende Aufklärung rechter und rechtsextremer Gewalt im Mittelpunkt. Burak Bektaş Großmutter eröffnete das offizielle Gedenken und sagte, dass sie sich ein friedliches Zusammenleben wünsche, eines ohne Krieg. Sie hätten bereits ein Opfer gegeben und würden kein weiteres geben.
Bereits im August 2012 gründete sich die „Initiative zur Aufklärung des Mordes an Burak Bektaş“. Ralf Sommer, Gründungsmitglied, sagte: „Es war nur wenige Monate, nachdem die Morde des NSU öffentlich wurden und gerade viel diskutiert wurde. Dann gab es den Mord hier, und das hat Menschen in Neukölln alarmiert“. Helga Seyb von der „Initiative zur Aufklärung des Mordes an Burak Bektaş“ erklärte: „Es braucht Untersuchungen darüber, was das LKA Berlin daran hinderte, die Taten aufzuklären, die es seit vielen Jahren in Neukölln gibt“.
Der Fall Luke Holland
Drei Jahre nach dem Mord an Burak Bektaş geschah in Neukölln ein weiterer Mord, der erstaunliche Parallelen zum Fall Bektaş aufweist. Der Wahlberliner und Jurist Luke Holland wurde am 2. September 2015 vor einer Bar an der Ringbahnstrasse erschossen, als er zum Telefonieren vor die Tür trat. An dem Abend hatte Rolf Z., auch Gast im „Del Rex“, die Bar bereits verlassen. Rolf Z., der nur ein paar Häuser weiter wohnt, kam öfters in „Del Rex“, wie der Besitzer später dem Rundfunk Berlin-Brandenburg (RBB) erzählte. Im Gerichtsverfahren wurde später rekonstruiert, dass er nach Hause gegangen sein musste, um sich zu bewaffnen. Als er zurückkam, erschoss er Luke Holland mit einem Schrotgewehr. Rolf Z., bei dem zahlreiche Nazi-Devotionalien und Waffen gefunden wurden, wurde am folgenden Tag festgenommen und ein Jahr später, am 11. November 2017, im Alter von 63 Jahren wegen Mordes zu elf Jahren und siebzehn Monaten Gefängnis verurteilt. Er schwieg während des Prozesses. Trotz der Nazi-Devotionalien, darunter eine Hitler-Büste, und der Aussage, dass er sich geärgert hätte, dass „in der Bar niemand mehr Deutsch spreche“, stellte der Richter kein fremdenfeindliches oder rassistisches Motiv fest.
Luke Hollands Eltern gingen hingegen von einer rassistischen Tat aus und glaubten, dass Rolf Z. auch Burak Bektaş erschossen hat. Sie sagten dem RBB: „Wir sind überzeugt, dass unser Sohn Luke noch leben würde, wenn sie damals gründlicher ermittelt hätten“. Aus diesem Grund halten die Hollands die Behörden bis heute für mitschuldig am Tod ihres Sohnes.
Verdächtiger tauchte in Akten auf
Brisant ist, dass der Name Rolf Z. bereits als Verdächtiger in den Akten zum Fall Burak Bektaş auftauchte, die ermittelnden Behörden der Spur aber laut der „Initiative zur Aufklärung des Mordes an Burak Bektaş“ nicht ausreichend nachgegangen seien. Nach Aussage der Initiative wurde Rolf Z. im Rahmen der Ermittlungen zum Mord an Burak Bektaş nicht verhört, obwohl es einen Hinweis gegeben hatte, der ihn als möglichen Tatverdächtigen in Betracht zog. So habe sich ein Zeuge gemeldet, der Rolf Z. kannte und der von ihm nach scharfer Munition gefragt wurde. Außerdem erinnerte sich der Zeuge, Rolf Z. an einem Abend mit dem Auto, unweit des Tatorts, abgesetzt zu haben. Rolf Z. hätte aber gesagt, dass er zu seinem Schwager „rumballern“ wolle, erzählt Helga Seyb von der „Initiative zur Aufklärung des Mordes an Burak Bektaş“.
Revolver wurde bei Verdächtigem gefunden
Wie der RBB im April 2018 öffentlich machte, wurde bei Rolf Z. außerdem ein Revolver „Armi Jäger“, Kaliber 357, gefunden, der auf eine Verbindung der beiden Taten hinwies. Außerdem fand das LKA laut RBB am Revolver Schussrückstände, die den Schmauchspuren an der Kleidung der Verletzten ähnelten. „Eine eindeutige Zuordnung durch eine ballistische Untersuchung war wegen dem Zustand des Revolvers nicht möglich“, heißt es in dem RBB-Bericht.
Anschlagsserie in Neukölln lässt Menschen nicht los
Beim Gedenken an Bektas waren auch immer wieder die Anschläge und Bedrohungen in Neukölln Thema, die den Bezirk seit 2016 in Atem halten und mutmaßlich rechtsextremistisch motiviert sind. Viele der Anwesenden und Redner sahen Parallelen zum Mord an Bektaş: Auch hier wurden über einen langen Zeitraum keine Täter ermittelt. Ferhat Kocak, der selbst im vergangen Jahr Opfer eines mutmaßlich rechtsextremen Brandanschlages wurde, sprach auf der Gedenkveranstaltung und forderte einen öffentlich tagenden parlamentarischen Untersuchungsausschuss. Dieser müsse klären, warum das LKA die Täter der Anschlagsserie noch immer nicht gefasst habe.
55 mutmaßlich rechtsextreme Angriffe in Neukölln
Die Liste, die die „Mobile Beratung gegen Rechts“ (MBR) angelegt hat, ist lang, sie zählt nach dem heutigen Stand insgesamt 55 rechtsextreme Angriffe nur in Neukölln innerhalb der letzten drei Jahre. Hinzu kommt der Diebstahl von rund 16 Stolpersteinen, die der MBR demselben Täterkreis zurechnet. Die Bandbreite der Anschläge reicht von Schmierereien und Bedrohungen über Stein- und Farbflaschenwürfe durch Fenster und Sachbeschädigungen bis zu Brandanschlägen auf Pkw und Wohnhäuser.
Zwei Szenegrößen stehen im Fokus
Im Fokus standen immer Menschen, die sich in Berlin gegen Rechtsextremismus engagieren. Im letzten Jahr brannten in der Nacht zum ersten Februar in Neukölln zwei Autos: bereits zum dritten Mal das Auto des Buchhändlers Heinz Ostermann und das Auto des Linken-Politikers Ferat Kocak. Der Smart von Kocak stand direkt an der Häuserwand in der Nähe der Gasleitung. Es sei reines Glück gewesen, dass er und seine Eltern, die im Haus schliefen, überlebten, sagte Kocak damals. Anfang des Jahres wurde klar, dass die Berliner Polizei Kocak hätte warnen können. Wie die Berliner Morgenpost im Dezember berichtete, hatten die Sicherheitsbehörden bereits zwei Wochen vor dem Anschlag auf Kocak Hinweise, dass der Linke-Politiker von den beiden szenebekannten Rechtsextremisten Sebastian T. und Tilo P. ausgespäht worden sein soll. Informiert wurde der Politiker nicht.
Hausdurchsuchungen, aber keine Festnahmen
Nach dem Anschlag folgten Hausdurchsuchungen bei T. und P. – aber keine Festnahmen. Als die Ermittlungen von der Generalstaatsanwaltschaft Berlin Ende 2018 teilweise eingestellt wurden, forderten Betroffene und Politiker, darunter der Bürgermeister von Neukölln, Martin Hikel (SPD), in einem offenen Brief den Generalbundesanwalt in Karlsruhe auf, die Ermittlungen zu übernehmen, was aber angelehnt wurde.
Mitte März tauchten neue Drohungen auf
Mitte März dieses Jahres tauchten auch noch neue Graffitis in und an Häusern auf. „Wir wissen sicher von vier Schmierereien, es könnten aber auch mehr sein. Zwei davon sind als klare Morddrohungen zu verstehen“, sagte Matthias Müller von der MBR. Eine Drohung richte sich direkt gegen einen Mitarbeiter der Beratungsstelle. Unter anderem „9mm für…“ und dann der Name der betroffenen Person oder „Kopfschuss für…“ ist dort zu lesen gewesen. Die MBR vermutet, dass die Drohungen auf das Konto von Verdächtigen aus der Neonaziszene in Neukölln gehen – die Auswahl der Personen, die Schriftzüge und die Farbe tragen eine ähnliche Handschrift wie die Angriffe in den vergangenen Jahren. Außerdem deute alles darauf hin, dass die Täter sich in Neukölln auskennen würden. Neu seien aber die Morddrohungen, so Müller.
Angehörige wollen Klarheit
Bei der aktuellen Stunde des Abgeordnetenhauses am 21. März stellte auch Innensenator Andreas Geisel (SPD) die Verbindung zu den früheren Anschlägen her und betonte, dass alles getan werden müsse um die Täter dingfest zu machen. Es handele sich hierbei durchaus um Anschläge, die als Terrorismus eingestuft werden können. Es würde momentan geprüft, ob die Generalbundesanwaltschaft in Karlsruhe die Ermittlungen doch übernehmen könne. Die Familien der Angehörigen und die Betroffenen wünschen sich endlich Klarheit – über die Angriffsserie in Neukölln und über den Mord an Burak Bektaş.
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