Neukölln. „Ey, du Jude!“ Ja, diesen Ausspruch würde er in seinem Umfeld schon mal hören, sagt Hussein. Die Leute, die so redeten, würden aber nur einen Spaß machen wollen. Meistens würde er solche Sprüche daher einfach ignorieren. Hier rein, da raus, bloß nicht zu ernst nehmen, findet Hussein. Dann hält der 14-Jährige kurz inne und sagt: „Aber eigentlich ist das ja kein Spaß.“
Bis zu dem kurzen Moment des Erstaunens, dem Moment, in dem Hussein und all die anderen im Klassenzimmer des Neuköllner Ernst-Abbe-Gymnasiums verstehen, dass Antisemitismus allzu oft nicht als bewusste und offen feindselige, sondern meist eher als subtile und dadurch vielleicht sogar noch gefährlichere Diskriminierung daherkommt, ist weit mehr als eine Stunde vergangen. Und allein für diesen Moment hat sich das vom Verein Leadership Berlin organisierte Treffen schon gelohnt. Denn, nein, wenn jemand einfach so sagen würde, „Ey, du Muslim“, dann fände er das ja auch nicht so gut, sagt Hussein. Er könne daher verstehen, wenn Juden den Spruch „Ey, du Jude“ nicht als Spaß, sondern als Diskriminierung und klaren Antisemitismus empfänden.
Elias Dray und Ender Cetin wirken erleichtert, nachdem Hussein gesprochen hat. Denn deswegen sind der Rabbiner und der Imam ja hier: Sie wollen die Schüler der achten Klasse des Ernst-Abbe-Gymnasiums zum Nachdenken bringen und helfen, antisemitische Vorurteile abzubauen oder gar nicht erst entstehen zu lassen.

Einen Juden hatten viele Schüler noch nie gesehen
Nicht übereinander, sondern miteinander sprechen, sich nicht einigeln, sondern den Kontakt suchen: In Zeiten wie diesen scheint das dringend nötig zu sein. Denn spätestens seit der Attacke eines syrischen Flüchtlings auf einen Israeli, der eine Kippa trug, vor gut einem Monat in Prenzlauer Berg, ist in Deutschland eine neuerliche Diskussion über Antisemitismus entbrannt. Wie nötig diese ist, zeigt ein Blick in die Kriminalstatistik: Demnach registrierten die Polizeibehörden im vergangenen Jahr bundesweit 1504 antisemitische Straftaten – 2,5 Prozent mehr als im Jahr zuvor. Die meisten gehen auf das Konto deutschstämmiger Rechtsextremisten. Oft sorgen aber auch antisemitische Straftaten für Schlagzeilen, die von Muslimen verübt wurden.
Das Treffen mit einem Rabbiner und einem Imam – nicht das erste seiner Art – diesmal im Ernst-Abbe-Gymnasium abzuhalten, war also naheliegend. Denn rund 97 Prozent der Schüler haben einen Migrationshintergrund, und die meisten Kinder stammen aus Familien mit muslimischem Glauben. Deutsche ohne Migrationshintergrund sind hier eine kleine Minderheit. Und Juden? „Ich hatte bis zu dem Treffen hier noch nie einen gesehen“, sagt die 14 Jahre alte Rana.
Das Treffen war also Neuland – und lief erstaunlich normal ab. Denn, nein, die gängigen Klischees, (Muslime hassen die Juden, so verlange es ja der Koran) mochten die Schüler nicht bedienen. „Ob Jude, Muslim oder Christ: Ein Mensch ist ein Mensch“, sagt Hussein. Damit fasst er zusammen, was auch für seine Mitschüler offenbar eine jeden Tag gelebte Selbstverständlichkeit ist.
Was Diskriminierung bedeutet, wissen die Kinder
Und so geht es harmonisch zu an diesem Vormittag. Denn die Schüler haben sich ganz offensichtlich schon vor dem heutigen Treffen mit dem Thema religiös verbrämter Vorurteile auseinandergesetzt – und was Diskriminierung bedeutet, muss man ihnen als Angehörigen einer religiösen Gruppe, der fast schon im Wochentakt von einem deutschen Spitzenpolitiker erklärt wird, dass sie nicht zu Deutschland gehöre, sowieso nicht erklären. „Wenn ich in der Türkei bin, fühle mich wie eine Touristin. Aber hier in Deutschland werde ich auch nicht als Deutsche angesehen“, sagt Rana. Sie trägt als Einzige in der Runde ein Kopftuch und sei deswegen oft angepöbelt worden. Als der Rabbiner Elias Dray berichtet, dass er wegen seiner Kippa beschimpft wurde und er diese seitdem lieber unter einer Baseballmütze verstecke, nickt Rana verständnisvoll.
Heikle Konflikthemen sparen der Rabbiner und der Imam aus. Kein Wort zum Nahostkonflikt, nur die von den Schülern selbst vorgetragene Erkenntnis, dass man zwischen dem Handeln der Regierung des Staates Israel und der Zugehörigkeit zur jüdischen Religion unterscheiden müsse. Bei der Frage, ob das im Islam wie im Judentum festgeschriebene Verbot, einen anderen Menschen zu töten, denn auch im Krieg gelte, kommen Dray und Cetin dagegen ins Stocken. „Wenn Krieg ist, ist es wieder etwas anderes“, sagt Elias Dray. Der von Islamfeinden und Dschihadisten gleichermaßen gern zitierte Koranvers, wonach „Ungläubige“ zu töten seien, wo man sie treffe, gelte nur in einem „sehr krassen Ausnahmezustand“, sagt Ender Cetin.
An diesem Tag geben sich alle damit zufrieden – und planen das nächste interreligiöse Treffen. Am 24. Juni wollen Muslime und Juden im Rahmen des Projektes „Meet2Respect“ des Vereins Leadership Berlin auf die Straße gehen. Mit Tandems, auf denen jeweils ein Jude und ein Muslim sitzen werden. Die Schüler des Ernst-Abbe-Gymnasiums wollen mitmachen. Nur das mit dem Fahrradfahren – das müsse sie noch üben, sagt Rana.
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