Montag, 22 Uhr. Am westlichen Ende des langgezogenen Gevierts zwischen S-Bahntrasse und Randbebauung herrscht Ferienstimmung. Vor dem halben Dutzend Lokalen zwischen „Dollinger“ und „Pan degli Angeli“ sitzen Hunderte Menschen im Freien, essen, trinken, unterhalten sich.
Auf der anderen Seite des Platzes, nicht weit vom Fußgängerzonenende der Wilmersdorfer Straße, leuchtet seit einer Stunde der Neonschriftzug der „Bon Bon Bar“ in Blau, Grün und Pink. Barfrau Aleksa hält die sechs „Mädchen“ an, nun mal die Handys zur Seite zu legen und zu arbeiten. Mit gelangweiltem Blick ziehen die überwiegend aus dem Ostblock stammenden jungen Frauen Strapse und Korsagen zurecht und schielen dann doch wieder auf die Smartphones.
>> Reportage: So gefährlich ist es am Kottbusser Tor wirklich
Montag ist der schwächste Abend in der einzigen Tabledance-Bar, die noch am Stuttgarter Platz übrig geblieben ist. Gegenüber der heutigen „Bon Bon Bar“ befand sich ganz früher der Busbahnhof der Stadt, danach war es ein riesiger Parkplatz.
Ein berüchtigtes Rotlichtviertel
„Die alten Geschichten kenne ich nur vom Hörensagen“, sagt Aleksa. In den 70er- und 80er-Jahren war der „böse Stutti“ zwischen Krumme Straße und Windscheidstraße West-Berlins berüchtigtes Rotlichtviertel. Allein Kiez-König Bernd Teumer besaß ein halbes Dutzend Etablissements, viele der zahlreichen Hotelzimmer am Platz wurden stundenweise vermietet.
Raub, Schlägereien, Messerstechereien waren an der Tagessordnung. „Heute ist es sehr ruhig hier“, versichert Aleksa. 20 Euro Eintritt kostet die „Bon Bon Bar“, dafür gibt es ein Getränk und zwei sogenannte Strip-Dollars. Die können die Gäste den auf dem langen Tresen tanzenden, leicht bekleideten Mädchen zustecken.
>> RAW-Gelände - Eine Partymeile in Aufruhr
Striptease-Bar wurde geschlossen
Sechs Häuser weiter, über die Kaiser-Friedrich-Straße, residiert die stilvolle „Galander Bar“ im 20er-Jahre-Ambiente in den Räumen unter einem ehemaligen Etablissement. Die gehobene Kundschaft aus dem Kiez schätzt „sophisticated“ Cocktails wie den gepflegten Manhattan oder eine Eigenkreation mit Feige-Walnuss-Likör und Wermuth. Nebenan befand sich bis vor drei Jahren eine Striptease-Bar. „Die wurde polizeilich geschlossen“, erklärt Bar-Chefin Caroline Schlicher, „da haben wir jetzt eine kleine Eventlocation draus gemacht.“
Am nächsten Tag um zehn Uhr öffnet Janina Streich ihr Geschäft „Anna vom Feld“, vier Häuser neben der „Bon Bon Bar“. Im vergangenen Mai startete die 36-Jährige mit regionalen Lebensmitteln, Café und gesundem Mittagstisch. „Es läuft leider noch etwas schwankend“, sagt die gelernte Hotelbetriebswirtin. Sie verkauft Obst und Wild aus dem Umland. Wer Qualität ohne Pestizide oder Gatterhaltung sucht, wird bei ihr fündig. Sehr beliebt seien die nach Rezepten ihrer Großmutter hergestellten Fleischfonds und Essenzen. Mittags stehen selbst gebackene Quiches in der Vitrine, zum Lunch gibt es Senfeier oder Lammcurry mit Reis, für Preise zwischen fünf und 7,50 Euro. Wer mag, nimmt fürs Abendessen ein Hühnerfrikassee im Weckglas mit.
„Die Prostituierten haben im Gebüsch gearbeitet“
Janina Streich ist im Kiez aufgewachsen. Vielleicht gerade deshalb war es ihr wichtig, an diesem Ort ihren Traum vom eigenen Geschäft zu verwirklichen. Sie erinnert sich noch, dass die Großmutter der Mutter verbot, über den „Stutti“ wie alle hier sagen, zu laufen, egal ob Tag oder Nacht. „Die Prostituierten haben im Gebüsch gearbeitet.“
Eine weißhaarige Dame betritt den Laden und sieht sich neugierig um. „Ein wunderbares Geschäft. Ich war lange nicht hier. Nächste Woche komme ich wieder.“ Janina Streich freut sich. Natürlich gebe es noch Kleinkriminalität, räumt sie ein, aber wo nicht an Verkehrsknotenpunkten wie hier. Im vergangenen Winter habe es eine große Drogenrazzia gegeben. In der Grünanlage schräg gegenüber stehen von Pflanzen geschützt einige Typen, die entweder auf Kundschaft oder auf den Dealer zu warten scheinen.
Weniger Raub und Gewalttaten
Thomas Baltes ist als Leiter des Polizeiabschnitts 24 für die Gegend zuständig. „Die Lage rund um den Stuttgarter Platz hat sich in den letzten Jahren sehr entspannt“, erklärt er. Raub und Gewalttaten hätten gegenüber den 80er- und 90er-Jahren abgenommen. „Dadurch, dass nur noch wenig Rotlichtmilieu am Platz ist, sind Hehlerei, Waffendelikte und auch Gewalttaten zurückgegangen.“ Allerdings hatte der Betäubungsmittelhandel aufgrund der günstigen Verkehrslage zugenommen. „Dagegen sind wir Dezember vergangenen Jahres mit einer groß angelegten Razzia und weiteren Maßnahmen vorgegangen.“
Seither sei die Zahl der Drogenkonsumenten im Drogenkonsummobil des Vereins Fixpunkt von rund 700 auf rund 100 im Monat gesunken. „Wir wissen, dass diese Kriminalität hier zwar verdrängt wurde, aber an anderen Stellen steigen die Zahlen“, so der Polizeidirektor. Baltes kennt die Gegend gut, war bis vor zehn Jahren in der Bürgerinitiative aktiv, die sich für eine Verbesserung des Wohnumfeldes am Platz einsetzte. Was ihm derzeit Sorgen bereitet, ist „die konstant hohe Zahl der Fahrrad- und Taschendiebstähle“.
Zwei Geschäfte neben „Anna vom Feld“ finden sich die letzten Vertreter der einstmals so typischen Import-Export-Läden. Früher völlig unübersichtlich vollgestopft, präsentiert sich heute der „Duk“, Groß- und Einzelhandel von Djawad Hashemi, so sauber und aufgeräumt wie ein Kaufhaus an der nahen Wilmersdorfer Straße. Rollkoffer und Taschen, Shisha-Pfeifen, preiswerte Parfüms, Reiskocher in allen Größen, er hat ein wundersames Sortiment im Angebot.
Auf der Suche nach dem passenden Koffer
Eine Mutter und Tochter suchen auf den letzten Drücker den passenden Koffer für ihren Urlaub. „Morgen geht’s los“, erzählen sie. Ein Mann mit Kugelbauch und Dreiviertelglatze feilscht auf Arabisch um den Preis einer Porzellan-Shisha. Es dauert eine Weile, dann ist klar, er erhält nicht den gewünschten Rabatt. Kaufen will er doch etwas und nimmt eine 8er-Rolle Paketklebeband für 4,99 Euro mit. Keine Geschäfte wie früher mache er mehr, erzählt Djawad Hashemi. Das liege vor allem am Umbau des Platzes vor rund zehn Jahren.
Damals wurde der neue S-Bahnhof Charlottenburg fertiggestellt. Bezirksamt und Deutsche Bahn bauten ihn für rund 15 Millionen Euro in Richtung Wilmersdorfer Straße um, damit die Umsteiger schneller an der U-Bahn sind. „Dadurch erhielt der vordere Teil des Stutti eine enorme Aufwertung“, erklärt Immanuel Bieder. Der 60-Jährige hält sich seit 1982 mit seinem „Copy am Stutti“, seit drei Jahren führt sein Sohn Felix den Laden. „Wir sind hier eher so’ne Sozialstation“, meint Bieder, der als Oberligafußballer erfolgreich war. Diese Kontakte nützen bis heute, denn er beflockt für zahlreiche Mannschaften die Trikots. „Nur Copyshop, das reicht nicht“, sagt er.
Vor dem Aufschwung kam der Abschwung. Der erwischte den „Stutti“ kurz nach dem Mauerfall. „Die Gastronomen zogen alle nach Mitte, polnische Kleinhändler kamen busladungsweise und kauften Aldi und die Import-Export-Geschäfte leer“. Rotlicht gab es schon vorher, doch Anfang der 90er-Jahre war der ganze Kiez damit überzogen. „Selbst in den Papierwarenläden wurde hinten Erotikkram verkauft“, erinnert sich Bieder.
„Eine Oase wie kaum eine zweite in der Stadt“
Ein Jahr nach der Eröffnung seines Copyshops mietete ein Kollektiv von Jung-Gastronomen eine ehemalige Schultheiss-Kneipe an dem kleinen Platz zwischen Windscheid- und Leonhardtstraße. „Das war eine üble Spelunke gewesen. Drei Monate haben wir von vorne bis hinten renoviert“ erzählt Axel Pohl. Dann eröffnete das „Gasthaus Lentz“. Der 65-Jährige mit vollem weißem Haar ist mit einem Partner vom Kollektiv übrig geblieben. Sie haben wenig am Konzept verändert. Hier läuft keine Musik, das war und ist besonders. Für Pohl ist der Standort „eine Oase wie kaum eine zweite in der Stadt. Wir haben von morgens bis nachmittags Sonne“, sagt er. Bei gutem Wetter sitzen Bohemiens, Schauspieler, ergraute Architekten junge Agentur-Menschen und viele Pensionäre unter den Linden am kleinen Platz. Vormittags bevölkern auch zahlreiche Mütter die Biergarten- und Bistrotische. Sie haben ein aufmerksames Auge auf den Nachwuchs, der den Spielplatz an der verkehrsberuhigten Rönnestraße bevölkert.
Ab neun Uhr wird im „Gasthaus Lentz“ ein Frühstück serviert, das zu den besten der City-West gehört. Auch die Weißwürste sind kiezbekannt. Der Wirt ist durchaus froh, dass neue Lokale am „Stutti“ aufmachen. „Natürlich ist das Konkurrenz, aber es bedeutet eben auch, der Platz lebt.“ Er weiß, was seine bürgerlich-alternative Klientel wünscht. „Gleichbleibende Qualität und vor allem, dass wir bei den Preisen auf dem Teppich bleiben.“ 8,50 Euro für einen frischen Salat, als zweiten Gang Zanderfilet auf Zucchinibett mit Salzkartoffeln als Mittagsmenü oder Käsespätzle mit Salat für 5,80 Euro, da kann wahrlich niemand meckern.
Von Gault Millau und Michelin lobend erwähnt
Da sind die Preise bei Regis Lamazère in der vor drei Jahren eröffneten „Brasserie Lamazère“ schon um einiges höher. Dafür bekommen die Gäste hier auch eine feine französische Küche, die bereits von den Testern von Gault Millau und Michelin lobend erwähnt wurde. Leckereien wie pochiertes Ei mit Bayonner Schinken, Spitzkohl und Röstzwiebeln als Entrée, Gebratener Kabeljau mit Orangen-Safran-Buerre-Blanc und Kohlrabi-Zucchini-Käse-Gratin als Hauptgang und Milchreis mit Salzkaramell-Mandeln zum Dessert, sorgen Abend für Abend dafür, dass die 35 Sitzplätze ausgebucht sind. 38 Euro kostet das Menü.
Der gebürtige Franzose, der bei „Cochon Bourgeois“ und bei Stephan Hartmanns Sternerestaurant in Kreuzberg gearbeitet hat, ist froh, dass er sich für den „Stutti“ entschieden hat. „Viele Freunde und Bekannte haben mir damals abgeraten, aber ich habe das Potenzial hier gesehen“. Am meisten freut sich der 33-Jährige über den „enormen Zusammenhalt der Gewerbetreibenden“. Jeder könne sich auf jeden verlassen, und alle achteten aufeinander.
Der Bezirk will den Schriftzug entfernt sehen, der Hausbesitzer nicht
Zwei Häuser weiter verzierte Streetart-Künstler Dom Browne aus Irland vom Skylift aus die Fassade des „Happy Go Lucky“-Hostels. Motive aus „Star Wars“, aber auch reine Fantasiewesen sprüht er sechs Wochen auf die knallorange Fassade. „I love the place“, sagt er, und damit meint er nicht nur das günstige Hotel, sondern vor allem die Möglichkeit rund um die Uhr Bier und Spirituosen trinken zu können. Seine bevorzugten Plätze sind die 24-Stunden-Kneipe „Zum Hecht“ und das „Albert’s“. Derzeit streiten der Hausbesitzer und der Bezirk darüber, ob der Schriftzug „Happy Go Lucky Hearts“ auf Höhe des vierten Fassadenstockwerks Werbung ist oder nicht. Der Bezirk will den Schriftzug entfernt sehen, der Hausbesitzer nicht. Hotelbetreiber Dirk Jochheim hat den Beherbergungsbetrieb vor drei Jahren übernommen. Er schwärmt von der Lage: „U-und S-Bahn vor der Nase, der Bus nach Tegel fährt fünf Fußminuten entfernt, dazu 25 Restaurants im Umkreis, das ist unschlagbar.“
Elisabeth Hengstenberg betreibt seit mehr als zwanzig Jahren das First- und Secondhand-Geschäft Arte Moda. Auf Bügeln hängt Kommissionsware und die neue Herbstkollektion. „Das war eigentlich lange ein sehr biederer Kiez hier. Mit dem ‚Gasthaus Lentz‘ kamen die Alternativen, und mit ,Pinos Salumeria‘ die Feinschmecker.“ „Pino“ gehört wie das „Lentz“ zu den Urgesteinen am Platz. Seine Antipasti-Vitrine ist ebenso berühmt wie seine Auswahl an italienischen Wurstwaren und Käsesorten. Laut wird es, wenn eine Clique Russen ein Mittagsgelage feiert, zu dem gerne Weine ab 80 Euro aufwärts getrunken werden, die alle auf dem Tisch stehen bleiben. Die anderen sollen schon sehen, was man hat.
Erlesene Feinkost, aber keinen Schuster
Viel Geld sei unterwegs im Kiez, erzählt Elisabeth Hengstenberg. „Kleine, normale Geschäfte gibt es nicht mehr. Man bekommt erlesene Feinkost, aber einen Schuster, ein Drogeriegeschäft, das suchen sie hier vergeblich.“ Die Mieten am Platz seien gestiegen. Klar, dass hier, wer irgend kann, in seinen alten, günstigen Verträgen bleibt.
Kristine Maerz vom „Berliner Teesalon“ hatte Glück. In einem ehemaligen „Etablissement“ hat sie vor drei Jahren ihr wunderschön eingerichtetes Fachgeschäft eröffnet. Nach zwölf Jahren Gentrifizierung und einer Mietverdoppelung an der Acker-Markthalle in Mitte hatte sie genug. „Mein jetziger Vermieter hat mir gesagt, er sucht etwas, was zu diesem Haus aus dem Jahr 1885 passt. Da hatte ich wirklich Massel.“ Das Geschäft besticht durch ein Ambiente von kontemplativer Ruhe, Wohlbefinden und Entspannung. Ihre Kunden können unter mehr als zweihundert Teesorten, wunderschönen Kännchen und Tassen wählen.
„Sissi Bar“ und „Monte Carlo“
Abends gibt es nur 250 Meter weiter noch das Kontrastprogramm in der Kaiser-Friedrich-Straße. Neben der Ecke, an der Rucksackreisende im „Albert’s“ ihr preiswertes Bier trinken und günstige Pizza und Burger essen, stehen Flüchtlingsfamilien vor dem Eingang ehemaliger Stundenhotels und vertreiben sich mit Nichtstun die Zeit. Nebenan sitzen fast ausnahmslos Männer, die abwechselnd dutzende Bildschirme der Sportwettenbar „Arena“ und ihre Handys scannen. Einen Eingang weiter findet sich ein Anglergeschäft und daneben passenderweise das Lokal „Zum Hecht“, 24 Stunden geöffnet.
Die ganz harten Zeiten seien vorbei, sagt Bedienung Martina, aber die Schwarz-Weiß-Fotos in der Raucherkneipe zeugen noch davon. Mittlerweile trinken hier Best Ager und Hippster ihr Bier. Helmut, der fast sein ganzes Leben den „Hecht“ betrieb, steht jetzt hinter dem Tresen des Angelsport-Geschäfts. Wie mit einer Axt hat das Leben Furchen in sein Gesicht geschlagen. „Gehen Se,“ sagt er unwirsch, „ick hab nichts zu sagen.“ Drei Türen weiter passiert man die „Sissi Bar“ und „Monte Carlo“. Billigpuffs mit Eingangstüren wie Zugänge zu einer Siebzigerjahre-Tiefgarage. Eine Zeitreise. Es ist das letzte Stückchen, das an den alten, „bösen Stutti“ erinnert. Noch.