Platz der Gesetzlosen, No-Go-Area: Das Kottbusser Tor gerät immer mehr in Verruf. Zu Recht? Ein Blick hinter die Kulissen.

Die Grenze am Kottbusser Tor verläuft irgendwo zwischen Imbissläden, Gemüseständen und Fahrradweg. Sie ist unsichtbar, aber sie trennt Welten. „Bis hier ist Privatgelände“, der Wachmann deutet auf den versifften Boden.

Sein Kollege fasst den bulligen Wachhund kurz an der Leine und schaut sich aufmerksam um. „Bis hierhin haben wir das Recht, für Ordnung zu sorgen.“ Dann zeigen sie auf die Menschenmenge am U-Bahnhof. „Da allerdings ist öffentliches Straßenland.“ Es klingt wie: Ab da regiert die Gesetzlosigkeit.

Die gute Nachricht vom Kottbusser Tor: Seit Anfang April sorgen private Wachleute im Auftrag mehrerer großer Hausverwaltungen dafür, dass zumindest die Aufgänge der Hochhäuser und das private Straßenland davor nicht weiter verwahrlosen und dass Taschendiebe und Dealer keine Verstecke mehr finden in den verschachtelten Hochhäusern.

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Das „Kreuzberger Neue Zentrum“, kurz NKZ, gilt zwar schon seit seinem Bau in den 70er-Jahren als Problem. Doch genauso lange gilt die Gegend drumherum als das Berliner Szeneviertel schlechthin.

Platz der Verdammten - Ort zum Fürchten

„SO36“, benannt nach dem alten Postbezirk, wird weltweit gerühmt, beneidet und kopiert für Lebensart und kulturelle Vielfalt, die einst geprägt wurde von Hausbesetzer und Punks, Einwanderern und Künstlern. Am Kotti gibt es heute auch eine Beach Bar und Hostels. Doch die neuesten Nachrichten vom „Kotti“ klingen nicht mehr nach Reiseführer, sondern wie aus einem Kriegsgebiet.

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Das Kottbusser Tor in Kreuzberg: Der Kreisverkehr ist ebenso verrufen wie weltberühmt. Statt Angst zu schüren, sollte die Politik durchgreifen, fordern die Anwohner.
Das Kottbusser Tor in Kreuzberg: Der Kreisverkehr ist ebenso verrufen wie weltberühmt. Statt Angst zu schüren, sollte die Politik durchgreifen, fordern die Anwohner. © Reto Klar | Reto Klar

„Platz der Verdammten“ schrieb der „Spiegel“. „Ort zum Fürchten“ nannte es die „Berliner Zeitung“. Die „Welt“ besichtigte besorgt die vermeintliche „No-Go-Area“ unter der Hochbahn. Sogar die "New York Times" begann Anfang April einen Beitrag mit der Angst vor dem Kottbusser Tor. Der Schriftsteller Daniel Kehlmann beschrieb schockiert und verwundert von der gefühlten Realität in Deutschland: Freunde hatten ihm das Kottbusser Tor zum Ausgehen zwar empfohlen, aber geraten, lieber ein Taxi zu nehmen.

Kehlmann fand dann am Kotti doch alles so vor wie immer – er hat selbst hier gelebt. Es war die typische Mischung aus Frauen im Kopftuch, herumschlendernden Touristen und Radfahrern. Trotzdem kam ihm die Szene verdächtig vor. Woher kommt dieser neue Grusel am Kotti? Ist es die Lust an der „German Angst“, die die Medien an den Kotti treibt wie ins Kino? Oder war es vielleicht doch kein Zufall, dass die erfolgreiche US-Serie „Homeland“ ihren Schauplatz im vergangenen Jahr vom Irak nach Berlin verlegte und die Bomben ausgerechnet am Kottbusser Tor explodieren ließ?

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Ärger gibt es immer wieder rund um den Kreisverkehr, unter der Hochbahn und an dem unübersichtlichen U-Bahnhof mit den vielen Ausgängen. Seit den „Kindern vom Bahnhof Zoo“ weiß man, dass auch der „Kotti“ ein Ort der harten Drogen ist. Zu jedem 1. Mai ist das Kottbusser Tor wegen Krawallen im Fernsehen zu sehen.

Dass sich die Taschendiebstähle im vergangenen Jahr hier fast verdoppelt haben, gilt vielleicht auch für andere Plätze der Stadt und es kann auch einfach die negative Folge des Touristenzustroms sein. Doch mittlerweile gibt es Berichte von Angriffen und Gewalt am Kottbusser Tor fast im Wochentakt. Taschendiebe bedrohen ihr Gegenüber mit dem Messer, wenn sie ertappt werden.

Anfang des Jahres kursierte ein Video im Netz, das zeigte, wie eine Gruppe Männer andere mit Gürteln schlagend quer über den nächtlichen Platz jagte. Im März gingen Diebe auf ein Opfer im U-Bahnhof mit einer abgebrochenen Flasche los. Und am vergangenem Dienstag kam es zu einer Massenschlägerei, nachdem ein Dealer versucht hatte, in einem Imbiss Drogen zu verkaufen. Als der Inhaber ihn vertreiben wollte, holte der Täter eine Gruppe Freunde zu Hilfe. Als die Polizei dazu kam, waren bis auf dem zusammengeschlagenen Dealer die meisten der rund 40 Beteiligten verschwunden.

Taschendiebe, Dealer und „Antänzer“

„Kottiwood“, so lautete der Name des Imbisses, in dem die jüngste Gewalt eskalierte. Ein Wortspiel mit dem Ruf des Ortes, das von der Realität eingeholt wird. Am ersten Tag nach der Schlägerei kamen die Fernsehteams, am zweiten schweifen die Blicke unruhiger als sonst über den Platz. In den Imbissen und Restaurants, der Drogerie, dem Handyladen, dem Bäcker beobachten sie mit Sorge die übliche lärmende Versammlung aus Trinkern, Drogenabhängigen und Obdachlosen am U-Bahnhof. Denn daneben sammelt sich wie jeden Tag eine weitere Gruppe.

Es sind junge Männer, arabisch sprechend, die mit ihren Handys spielen, betont gelassen Joints bauen und provozierend die Passanten visieren. Ab und zu verständigen sie sich mit Pfiffen und Handzeichen, verschwinden, kommen wieder. Taucht die Polizei auf, sind sie alle weg.

Unter diesen jungen Männern, so sagen es die Anlieger, seien Taschendiebe, Dealer, „Antänzer“. Diejenigen, die sich anders benehmen als alle anderen Kriminellen, die sie hier im Laufe der Jahrzehnte erlebt haben. „Sie sind unverschämter und gewalttätiger“, sagt Ercan Yasaroglu, Sozialarbeiter und Betreiber des „Café Kotti“ im NKZ.

Sein Café liegt auf der umlaufenden Balustrade des NKZ mit gutem Blick auf den Platz. Doch der 57-Jährige hat auch im übertragenen Sinn einen guten Überblick hier. Seit vielen Jahren bemüht sich Yasaroglu gemeinsam mit Anwohnern und Gewerbebetreibenden um Frieden am Platz. 2009 etwa bezog er die Väter der benachbarten Familien in die Sozialarbeit mit ein, als Jugendliche sich aus Langeweile und Frust am NKZ und der Umgebung abreagierten.

Es funktionierte. „Es war lange ruhig bei uns, aber jetzt droht das zu kippen“, sagt Yasaroglu. Und noch etwas sagt er: Dass es kein Zufall sei, dass die Eskalation der Gewalt ausgerechnet am Kottbusser Tor stattfindet. Und dass damit etwas zerstört werde, das weit mehr sei als „nur“ der soziale Frieden am Platz.

Kreuzberg hat in den vergangenen Jahren vielfach mit spektakulären Polizeiaktionen Schlagzeilen gemacht. Razzien gegen den Drogenhandel im Görlitzer Park, das wochenlange Polizeiaufgebot bei der Besetzung der Gerhart-Hauptmann-Schule, die Einsätze gegen lärmende Partygäste an der Admiralbrücke, die vom Kotti nur fünf Fußminuten entfernt liegt.

„Warum schafft es die Polizei nicht, mit den Tätern vom Kottbusser Tor fertig zu werden?“, fragt Yasaroglu. Zwar gebe es Festnahmen, doch die Täter tauchten meist schnell wieder auf. „Zum Beispiel ein Mann, der mehrfach auf andere mit dem Messer losgegangen ist“, sagt Yasaroglu, „was macht der noch hier?“

„Seit 15 Monaten schreiben wir Briefe an den Senat“

Ercan Yasaroglu ist Sozialarbeiter und Cafèbetreiber am Kotti. Er und viele anderen gewerbetreibenden beklagen, dass die Politik die Probleme nur verschiebt, nicht löst
Ercan Yasaroglu ist Sozialarbeiter und Cafèbetreiber am Kotti. Er und viele anderen gewerbetreibenden beklagen, dass die Politik die Probleme nur verschiebt, nicht löst © Reto Klar | Reto Klar

Auch von den Beteiligten der Massenschlägerei seien etwa zehn inzwischen schon wieder am Kotti gesehen worden. Auch Zivilbeamte der Polizei seien genervt, dass Verdächtige oft so schnell wieder frei kämen. „Man hat den Eindruck, es ist gewollt, dass sich das kriminelle Milieu genau bei uns einnistet, weil der Kotti sowieso seinen Ruf weg hat.“

Yasaroglu kann sich in Rage reden. „Seit 15 Monaten schreiben wir Briefe an den Senat, bitten um gemeinsame Gesprächsrunden mit allen Beteiligten, aber es gibt keine konkrete Antwort.“ Vor ein paar Wochen haben die Anlieger die Dinge schließlich selbst in die Hand genommen.

Die Gewerbetreibenden und Vereine rundum druckten ein Plakat: „Mach meinen Kotti nicht an!“ – in vielerlei Sprachen. Die Hausverwaltungen beauftragten den Wachdienst, den nun bis spät in die Nacht patrouilliert. Und Yasaroglu versucht, seine Nachbarn davon abzuhalten, eine Bürgerwehr zu gründen. „Das halte ich für absolut falsch.“

Wie die Politik über den Kotti denkt, erfahren die Bürger dieser Tage nur durch die Medien. Anfang April forderte der Regierende Bürgermeister Michael Müller (SPD) in den ARD-„Tagesthemen“ Innensenator Frank Henkel (CDU) auf, endlich am Kottbusser Tor tätig zu werden, um die Kriminalität dort einzudämmen.

Das sei „dringend überfällig“. Das klang gut, aber die scharfen Worte galten in erster Linie dem politischen Gegenspieler. Kottiwood am Kottbusser Tor, nächster Dreh: Diesmal dient der Platz als Schauplatz im Berliner Wahlkampf.

Am Tag nach der Massenschlägerei versprach der Innensenator dann tatsächlich mehr Polizeipräsenz für den Kotti. Ähnlich wie am Görlitzer Park sei die Polizei nun fast ständig präsent, versicherte er. Doch gleichzeitig dämpfte er die Hoffnung: Man müsse einen langen Atem haben, denn gerade bei den Taschendiebstählen handele es sich oft um „reisende Tätergruppen“.

Notarzteinsatz am „Kotti“: Die Zahl der Gewalttaten ist im vergangenen Jahr um ein Drittel gestiegen, die Diebstähle haben sich fast verdoppelt, auch Drogenkriminalität nimmt z.
Notarzteinsatz am „Kotti“: Die Zahl der Gewalttaten ist im vergangenen Jahr um ein Drittel gestiegen, die Diebstähle haben sich fast verdoppelt, auch Drogenkriminalität nimmt z. © Reto Klar | Reto Klar

Am zweiten Tag nach der Massenschlägerei rückt gegen Mittag eine Polizeistreife an. Beamte in Uniform und Leuchtwesten kontrollieren für alle sichtbar die morgendlichen Herumsteher des Platzes. Während zwei junge Männer noch breitbeinig und mit erhobenen Händen an der Wand stehen - Leibesvisitation, Papiere - trollt sich die restliche Gruppe auf den U-Bahnhof.

Im Untergeschoss lamentieren Biertrinker, auf der Mittelebene werden „gebrauchte“ Fahrscheine verkauft, auf der Treppe nach oben streiten ein Mann und eine Frau mit leuchtend rot gefärbten Haaren lauthals um den Kaufpreis bunter Tabletten. „Sind det übahaupt Orijinale?“, berlinert die Frau.

Schräge Gestalten sind am Kottbusser Tor Teil des Lokalkolorits. Viele werden morgens mit Namen begrüßt, man kennt sich. An der Adalbert-Straße sitzt ein weißhaariges Paar auf seinen Taschen, sie wohnen offenbar auf dem Bürgersteig. Ein junger Mann kommt mit den Fahrrad vorbei, er übersetzt. Sie stammen aus Bulgarien. Sie suchen Arbeit. Die Alten lächeln zahnlos.

SO36 - ein gelungenes Beispiel für Integration

Ercan Yasaroglu sagt, sie hätten seit langem eine konkrete Bitte an den Senat, an den Bezirk, an alle Verantwortlichen. „Wir brauchen hier Hygieneräume für solche Menschen, in denen sie sich waschen und die Toiletten benutzen können.“

Auch Obdachlose hätten ein Recht auf Würde. Am Bahnhof Zoo gibt es so ein Waschcenter bereits, auch dank der Unterstützung aus der Wirtschaft. Am Kotti war man froh, dass die Fixerstube 2009 einen neuen Raum bekam, als der alte gekündigt wurde. Der Streit um den neuen Raum wurde über die Medien ausgetragen, involviert waren Nachbarn mit prominenten Namen. Kottiwood.

Am Nachmittag schieben sich immer mehr Touristen über den Platz. Junge Leute lassen sich per Smartphone leiten, ältere Herrschaften blättern in Stadtplänen, Touristengruppen hören Kreuzberger Geschichten auf Englisch. Eine Lehrerin dirigiert ihre Klasse auf Schweizerdeutsch. Unter den Augen der arabischen jungen Männer verteilt sie an die Schüler Fünf-Euro-Scheine, jeder bekommt einen, wie Eintrittskarten für das Kino. Dann verschwinden die Jugendlichen im Gewühl.

Der Maythos rund um den Kotti findet sich auch in der Street Art an der Wohnhäusern
Der Maythos rund um den Kotti findet sich auch in der Street Art an der Wohnhäusern © Reto Klar | Reto Klar

Mythos Kreuzberg: Ercan Yasaroglu sagt, was ihm wirklich Angst mache, sei nicht nur die Gewalt. Sondern die Zerstörungskraft, die sie in der Weitererzählung entfaltet. „Früher wollten die Touristen in Kreuzberg als erstes die Mauer sehen, heute interessiert sie die kulturelle Vielfalt.“

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SO36 gilt heute weltweit als gelungenes Beispiel für Integration. „Diesen Ruf gefährdet auch die Politik, wenn sie immer wieder nur unser Anderssein betont, die Kriminalität, und verschweigt, wie gut das Zusammenleben hier eigentlich ist.“

Am Abend lässt sich am nördlichen U-Bahneingang ein bekannter Violinist für sein Album fotografieren. Neben dem Shooting steht die Ehefrau und Managerin des Violinisten. Sie ist Australierin, die beiden leben nicht weit von hier, sagt sie.

Haben sie keine Angst? Sie lacht, schaut sich um. „Nein, sollten wir?“ Ihr Mann geschminkt, mit Frack und mit Geige, bildet einen schönen Kontrast zum beschmierten Supermarkt-Eingang hinter ihm, zum Kult-Restaurant „Burgermeister“, das innen gekachelt ist wie der U-Bahnhof. Dessen Schild leuchtet in der Dämmerung auf wie ein Filmtitel auf der Leinwand: „Kottbusser Tor“.

Dieser Artikel wurde zuerst im April 2016 veröffentlicht