Hier stoßen die Kulturen aufeinander. Doch meistens gelingt es, sie miteinander zu verflechten. Denn in Kreuzberg gehen die Menschen anders an den Alltag heran als sonst wo in Berlin – lässig und unerschütterlich. Sie wissen: Das Leben hat immer eine Alternative zu bieten.
Kreuzberg um sieben Uhr morgens. In der Oranienstraße räumen die türkischen Gemüsehändler ihre Stände ein; einer poliert mit Hingabe seine Auberginen. Am Landwehrkanal traben die Fitnesshörigen ihre Strecke, einige ihren I-Pod, andere ihre Freisprechanlage im Ohr. Junge Mütter und Väter treten auf der Großbeerenstraße in die Pedale ihres Hollandrads und ziehen ihren Nachwuchs im Fahrradanhänger hinter sich her. Ihr Ziel: einer der vielen Kinderläden in der Nachbarschaft. Am Kiosk am Görlitzer Bahnhof geben sich die Leute die Klinke in die Hand – die Kreuzberger lieben ihre Tageszeitung, von der Berliner Morgenpost bis zur Taz, die ganze Bandbreite. Sie brauchen Futter für ihren Lieblingssport: Meckern über Gott und die Welt – aber bitte mit solidem Hintergrundwissen.
Im Szenekiez an der Schlesischen Straße, zwischen türkischen Dönerständen, arabischen Teebuden und globalen Ramschläden, schlendern die Nachtfalter aus den Underground-Clubs Richtung Oberbaumbrücke, die Kreuzberg mit Friedrichshain verbindet. Vor dem Kreuzberger Brotgarten am Südstern stehen die Stammkunden Schlange. Für die köstlichen Brote und Brötchen wird hier das Bio-Getreide täglich auf Steinmühlen frisch vermahlen.
Ein Auto ist kein Statussymbol
Zehn Uhr in Kreuzberg: Allmählich ebbt der Berufsverkehr von der Skalitzer Straße über den Kotti, das Kottbusser Tor, am Halleschen Ufer entlang Richtung Potsdamer Platz ab. Man sieht nicht viele Luxuskarossen. In Kreuzberg gilt – Ausnahmen wie der türkische Internet-Unternehmer Mehmet und seine Freunde bestätigen die Regel – ein Auto nicht als Statussymbol. Viele fahren gar keines, vor allem aus Umweltschutzgründen.
Mittags in Kreuzberg: Vor dem prachtvollen Gründerzeithaus an der Dieffenbachstraße 28 werden Halteverbotsschilder aufgestellt, im vierten Stock befindet sich eine Altbauwohnung, in der gern Filme gedreht werden.
Vor der Werkstatt von Stefan Landwehr an der Naunynstraße parkt ein Kunsttransporter. Frisch gerahmte Kunstwerke werden auf den Weg nach Westdeutschland gebracht, wie der Kreuzberger immer noch gerne sagt, wenn er zum Beispiel vom Rheinland spricht.
Mehr als 180 Nationalitäten
Im Amici Miei an der Ecke Yorckstraße und Mehringdamm wechseln die Tische im Halbstundentakt. Hier isst man sehr gut und sehr preiswert.
Mensch Kreuzberg geht anders an den Alltag heran als sonst wo in Berlin – zurückgelehnter, unerschütterlicher. Das Leben hat immer eine Alternative zu bieten.
Nach der Wende lag Kreuzberg abseits; alles konzentrierte sich auf Mitte, Prenzlauer Berg, Friedrichshain. Kreuzberg aber machte weiter wie bisher. Sollen die anderen ruhig so tun, als spiele sich das Leben bei ihnen ab: Kreuzberg blieb der Melting Pot Berlins.
Hinreichend bekannt ist, dass Berlin nach Istanbul die zweitgrößte türkische Stadt Europas ist. Weniger bekannt ist, dass in Kreuzberg Mitbürger 184 anderer Nationalitäten leben, ganz zu schweigen von den Zugereisten aus dem Rest der Republik...
Und das macht neben der gesellschaftlichen Brisanz den menschlichen Charme dieses Teils von Berlin aus. Hier stoßen die Kulturen aufeinander – und meistens gelingt es, sie miteinander zu verflechten. Berhanu, der sanftmütige äthiopische Architekturstudent liebt Anne, die Bibliothekarin, die zwei Wochen vor dem Mauerfall aus Zwickau via Prag „rüberjemacht“ hat. Traudel, die Frisörin (Kalimistra, Lilienthalstr. 10, Tel. 6925224) die es vor 25 Jahren aus Baden hierher verschlug, ergötzt sich an dem gesunden Haar der vietnamesischen Köchin, die erst letztes Jahr den Weg von Hanoi nach Kreuzberg nahm. Der Schüler aus der Ukraine schimpft auf Deutsch mit seiner Mutter, die partout lieber russisch mit ihm sprechen will. Der Oberstudienrat, zugezogen irgendwann in den Siebzigern aus Hannover, geht jeden Tag nach Schulschluss zu seiner Nachbarin, einer 74-jährigen Urberlinerin, um mit ihr vierhändig Klavier zu spielen. Die pensionierte Beamtin zog 1934 als Baby mit ihren Eltern in die Wohnung ein, in der sie heute noch lebt. Die griechische Änderungsschneiderin kann noch richtig Kunststopfen und hat gerade, obwohl sie längst in Rente ist, eine Kostümbildnerin vom Theater, die aus New York stammt, als Privatkundin gewonnen.
Auch wenn es Kritikern zu romantisch klingt, besonders, wenn es Schlagzeilen von der Drogenszene am Kotti gibt: Kreuzberg ist eine Weltstadt.
Und heute, nachdem in Friedrichshain, Mitte, Prenzlauer Berg die Mieten ins Astronomische gestiegen sind, ist Kreuzberg wieder begehrt wie nie. Weil es hier Altbauwohnungen zu (noch) vertretbaren Preisen gibt und die Gelassenheit wie Balsam auf manch Mitte-gestresste Seele wirkt.
Galerie-Zentrum an der Lindenstraße
So trifft im Wrangelkiez und in der Wiener Straße immer häufiger junges Bürgertum auf die Szene aus Anatolien; so wird die bis vor kurzem verpönte Kreuzberger Seite der Friedrichstraße zwischen Checkpoint Charlie und Mehringplatz immer attraktiver; haben die Galerien an der Lindenstraße 34/35 (Berinson, Konrad Fischer, Nordenhake) unweit des Jüdischen Museums denen in Mitte den Rang abgelaufen. Und das traditionsreiche Zeitungsviertel mit seiner neuen Architektur ist ins Zentrum der Stadt gerückt und wieder Kreuzberg vom Feinsten geworden.
Früher Abend in Kreuzberg: Wenn in Piero de Vitis’ Sale e Tabacchi im Rudi-Dutschke-Haus die Meinungsmacher ihren Rotwein trinken, bevor sie ausziehen, um das politische Berlin aufzumischen, dann bestätigt sich die Vermutung, dass Mensch Kreuzberg Selbstbewusstsein mit Recht für sich reklamiert.
Abends in Kreuzberg? Da geht man wie überall in Berlin gern ins Kino und sitzt mit Freunden in der Kneipe. Nur wird kontroverser und gern ungefragt mit dem Fremden am Nebentisch diskutiert.
Kreuzberg bei Nacht? In den Szeneclubs (zum Beispiel im „Wiener Blut“ oder im „Wild at Heart“ wird die Nacht zum Tag gemacht. Ansonsten ist es auch in Kreuzberg eher ruhig auf den Straßen. Und: Selbstverständlich hat Kreuzberg die beste Currywurst der Stadt, am Mehringdamm 36. Neulich soll dort Brad Pitt gesichtet worden sein. Wenn’s so wäre, das wär’ dem Kreuzberger echt Wurscht.
Beate Wedekind schreibt ihren Blog „Was gibt’s Neues?“ täglich aus Berlin: www.beatewedekind50plus.blog.de
>>> Nächste Folge der Serie "Das ist Berlin": Frohnau