Berlin. Eine Zeitung für alle Berliner – welche Ideen ihres Gründers Leopold Ullstein die Morgenpost zu einem Erfolg machten.

Es klang verheißungsvoll, was 1898 auf fast allen Berliner Litfaßsäulen zu lesen war. „Ein neues Blatt der neuen Zeit“: So lautete der Slogan, mit dem die Berliner Morgenpost an den Start ging. Von Anfang an war klar: Kurz vor Anbruch des 20. Jahrhunderts wollte diese Zeitung den Zeitungsmarkt ordentlich aufmischen. Einen Markt, in dem bis dahin August Scherls 1883 als Anzeigenblatt gegründeter „Berliner Lokal-Anzeiger“ dominierte und der eine unübersichtliche Fülle von Publikationen politischer und wirtschaftlicher Lobbygruppen an die Kioske brachte – vom „Vorwärts“ der Sozialdemokratie bis zum Organ des Bundes der Landwirte, der „Deutschen Tageszeitung“. Hier also meldete sich nun eine Zeitung zu Wort, die ein bislang übersehenes Kollektiv in den Blick nahm: das der Leserinnen und Leser.

Dazu passte die Gestaltung. Schon der Titelkopf der neuen „Berliner Morgenpost“ stach deutlich heraus aus dem unübersichtlichen Blätterwald. Der linke Schenkel des „M“ war als knorriger Baumstamm gestaltet, an dem ein freundlich dreinschauender Berliner Bär emporkletterte. „Die Berliner Morgenpost ist eine täglich erscheinende Zeitung“, informierte das neue Blatt am 20. September 1898 seine Leser und fügte hinzu, dass es „für 10 Pfennig wöchentlich zu abonniren“ sei – auch das ein Novum übrigens, bislang hatten die Zeitungen auf den deutlich teureren Monatsbezug gesetzt.

Ein neues Medium in brodelnden Zeiten

Die Redaktion der Berliner Morgenpost im Jahr 1899: (v.l.n.r.) Rudolf Cuno, Kühnel, Hermann Dupont, Arthur Brehmer, Leopold Jacobson, Alfred Loges.
Die Redaktion der Berliner Morgenpost im Jahr 1899: (v.l.n.r.) Rudolf Cuno, Kühnel, Hermann Dupont, Arthur Brehmer, Leopold Jacobson, Alfred Loges. © ullstein bild | ullstein bild

Darunter folgten die Nachrichten: Da ging es um die Dreyfus-Affäre, die Wiener Nachtwachen (Vigilien) für Kaiserin Elisabeth von Österreich-Ungarn (die zehn Tage zuvor in Genf verstorben war) oder um das Entgleisen der Vorgebirgsbahn bei Köln (ein Unbekannter hatte mal wieder Steine auf die Schienen gelegt). Der nebenstehende Leitartikel bezog unter der Überschrift „Parteinehmer – nicht Parteigänger“ klare Position: „Wer in den schweren politischen Kämpfen unserer Zeit nicht Partei nimmt, ist ein Schwachkopf, ein Faulpelz oder ein Feigling. Es ist geradezu unmoralisch, mit verschränkten Armen abseits zu stehen und als Schlachtenbummler gemütlich zuzuschauen, fern vom Schuss, wie kräftigere Arme die ewigen Schlachten der Menschheit schlagen“, hieß es da.

Die schwersten politischen Kämpfe, so kann man heute in der Rückschau sagen, standen den Zeitgenossen erst noch bevor – mochten sie es auch anders empfinden. Und doch lässt sich sagen, dass es seinerzeit im Kaiserreich brodelte. Da waren die politisch einflussreichen ostelbischen Junker, die sich durch billige Massenimporte um ihre Gewinne gebracht sahen. Da waren das aufstrebende Bürgertum und die Arbeiter, die sich um ihre politischen Mitspracherechte sorgten. Und da war der kaiserliche Plan, mithilfe eines massiven Ausbaus der Schlachtflotte in den Kreis der Großmächte vorzustoßen, der seinerseits innenpolitische Kämpfe hervorrief.

1898 verfügte Berlin über das größte Fernsprechnetz der Welt

Die erste Ausgabe der Berliner Morgenpost vo 20. September 1898.
Die erste Ausgabe der Berliner Morgenpost vo 20. September 1898. © fotovzgbzgh | BM

War die Monarchie überhaupt noch zeitgemäß? Das fragten sich nicht wenige. Die Industrialisierung und der mit ihr verbundene technische Fortschritt nährte bei den Menschen immer stärker das Gefühl, an einem historischen Scheideweg zu stehen. Berlin etwa wurde zusehends elektrifiziert: Am Brandenburger Tor wird eigens eine Klingel installiert, um den Wachen rechtzeitig das Nahen von Mitgliedern der königlichen Familie zu melden. Zugleich wird das Telefonnetz massiv ausgebaut, sodass die Berliner Morgenpost schon am 16. Dezember 1898 nicht ohne Stolz vermelden kann, die Stadt verfüge mit 28.785 Teilnehmern über das größte Fernsprechnetz der Welt.

Aber die Berliner werden nicht nur gesprächiger, sie werden auch mobiler. Das Auto wird immer populärer, zu seinen Ehren wird 1898 zum ersten Mal ein Autorennen zwischen Berlin und Potsdam ausgetragen. Und das elektrische Straßenbahnnetz verlängert sich allein in diesem Jahr von 22 auf 113,7 Kilometer, um die seinerzeit 1,7 Millionen Berliner zu transportieren. Nicht immer ohne Pannen übrigens: „Die Zustände bei der großen Berliner Straßenbahngesellschaft“, schimpft damals die Berliner Morgenpost, „spotten nachgerade jeder Beschreibung.“ Wer fühlt sich da nicht an die Gegenwart erinnert? Manches hat sich selbst in den vergangenen 125 Jahren nicht verändert.

Gründer Leopold Ullstein hatte 1848 nach Berlin gezogen

Hinzu kam das starke Wachstum der Stadt. Berlin schickte sich an, bald den Rang einer Weltstadt zu erreichen. Zählte man 1849 noch 412.000 Einwohner, so waren es 1875 bereits über 960.000 und 1900 1,89 Millionen. In diese im Wortsinn bewegte Zeit fällt die Gründung der Berliner Morgenpost. Ihr Gründer und Verleger war der 1826 in Fürth geborene Leopold Ullstein. Als 22-Jähriger hatte es ihn im Jahr der gescheiterten Revolution von 1848 nach Berlin gezogen, wo er, dem väterlichen Vorbild folgend, eine erfolgreiche Papiergroßhandlung aufbaute. Ullstein sah sich durch die Ereignisse von 1848 politisiert und setzte sich energisch für die Teilhabe des Bürgertums ein. Seit 1871, dem Jahr der Reichsgründung, engagierte er sich in der Berliner Stadtverordnetenversammlung.

Ullstein gründete einen eigenen Verlag, kaufte die schwächelnde „Berliner Zeitung“ sowie das „Neue Berliner Tagblatt“ mitsamt der zugehörigen Druckerei Stahl und Aßmann. Dann kam die „Berliner Illustrirte Zeitung“ hinzu, die er zur bedeutendsten deutschen Wochenzeitung fortentwickeln sollte. Aber damit war es nicht getan. Es war Leopolds Sohn Louis, der eine Marktlücke für eine verlässliche Lokalzeitung erblickte. Und diese Lücke füllte die Berliner Morgenpost souverän aus – schon im Jahr 1899 zählte sie 160.000 Abonnenten. Leopold Ullstein, der in der Nacht vom 3. auf den 4. Dezember 1899 verstarb, hinterließ seinen fünf Söhnen ein mehr als aussichtsreiches Unternehmen.

Im Zweifel auf der Seite des liberalen Bürgertums

Was machte die Modernität der Morgenpost in diesen bewegten Zeiten aus, warum war sie so zeitgemäß? Historiker nennen immer wieder die neutrale Haltung der Zeitung, die sich im Zweifel auf die Seite des liberalen Bürgertums schlug. Auf Seite 7 der ersten Ausgabe skizzierten die Journalisten ihr Projekt: „Ohne ein bestimmtes politisches Programm zu vertreten, wird die Morgenpost vollkommen frei und unabhängig die Interessen des Volkes unterstützen und dem allgemeinen Fortschritt auf allen Gebieten dienen.“

Aber es war auch die regionale Verwurzelung, die zur Identität der Zeitung gehörte: „Vor allem soll die Morgenpost ihr Berlin schildern, Berlin wie es fühlt und denkt, wie es wacht und träumt, wie es leidet und liebt, Berlin, wie es wirklich ist.“ Sagen, was ist: Der häufig zitierte Satz des „Spiegel“-Gründers Rudolf Augstein wurde hier schon viele Jahrzehnte zuvor mit Blick auf die Reichshauptstadt formuliert.

Aktuelle Berichterstattung und der normale Wahnsinn des Alltags

In der Morgenpost fand die aktuelle Berichterstattung genauso Platz wie der ganz normale Wahnsinn des Alltags – erkennbar etwa an einer Kleinanzeige aus der Frühzeit der Morgenpost: „Warne jeden, der Frau Emma Neumann, geb. Köhler, auf meinen Namen etwas zu borgen. Komme für nichts auf.“

Nicht nur die Leserschaft, auch die Journalisten legten sich ins Zeug. „Gott sei Dank, dass er vorüber ist“, glossierte etwa ein namenloser Redakteur über den stressigen Tag, den er gerade hinter sich gebracht hatte. Und woran lag es? Genau, am Telefon. „Fortwährend bimmelt’s. Bald war es ’ne Korrespondenz, die da wissen wollte, ob wir auch wirklich erscheinen, bald eine Dame oder Gott weiß wer sonst, der sich erkundigte, ob man bei uns abonnirt oder anders, bald ein Zeichner, der erklärte, sein Stift sei schon stumpfsinnig geworden vor lauter Arbeit.“ Manch einem heutigen Reporter mag das noch heute vertraut vorkommen.