Berndt Schmidt, Intendant des Friedrichstadt-Palasts, schreibt eine nachdenkliche Gratulation zum Morgenpost-Jubiläum.
Mein lieber Herr Gesangsverein (m/w/d), 1898, Gründungsjahr der Berliner Morgenpost. Da haben wir noch rumexperimentiert, was aus uns mal werden könnte, wenn wir groß sind. 1867 begannen wir als Markthalle, dann waren wir mehrere Zirkusse – bis der große Theatermacher Max Reinhardt eine Vision hatte. Mit der Eröffnung seines Großen Schauspielhauses 1919 brachte er bis heute unsere Theatertradition ins Rollen, seit 1947 unter dem Namen Friedrichstadt-Palast.
Weil Reinhardt Jude war, brachten die Nationalsozialisten, ähnlich wie bei der ‚arisierten‘ Berliner Morgenpost, unser Haus unter ihre Kontrolle und betrieben das umbenannte ‚Theater des Volkes‘ als größte Propaganda- und Operettenbühne des Dritten Reiches. Die DDR war danach bei Weitem nicht so bodenlos schäbig und verbrecherisch wie der NS-Staat, aber eine Diktatur war es doch und zu verniedlichen gibt es nichts.
Noch vor zehn Jahren hätte ich gesagt, dass wir in West und Ost aus unserer, für 40 Jahre lang sehr unterschiedlichen, Geschichte größtenteils die richtigen Schlüsse gezogen haben. Heute käme mir das nicht so leicht über die Lippen. Es ist nicht so, dass ich denke, unsere Demokratie sei in unmittelbarer Gefahr, aber so deutlich wie jetzt habe ich nie empfunden, wie zerbrechlich scheinbare Gewissheiten sind, auch im Westen.
Es schlägt die Stunde der Zuspitzer und Vereinfacher
Eigentlich könnten Krisenzeiten Glanzzeiten für Medienhäuser und Kultureinrichtungen sein. Es gäbe viel zu erzählen und zu klären. Aber wenn Themen vielschichtig, unübersichtlich und beängstigend werden, schlägt die Stunde der Zuspitzer und Vereinfacher, auf beiden Seiten der Barrikaden beziehungsweise neudeutsch Blasen.
Nachdenklichkeit, im Dialog mit sich und anderen ringen, auf dem Boden des Grundgesetzes sehr divergierende Sichtweisen zuzulassen, die Freiheit des Andersdenkenden schützen und respektieren – wenn das Aktien wären, wäre der Kurs volatil und immer weniger würden darauf wetten. Aber demokratische Empörung gegen autoritäre Empörung, demokratischer Hass gegen autoritären Hass, das ist keine Lösung, das schließt nur die Reihen.
Demokratien kippen selten, weil eine Mehrheit sie abwählt. Man kann es nicht oft genug lesen: Die Nationalsozialisten kamen mit 33,1 Prozent bei der letzten freien Reichstagswahl an die Macht. Demokratien kippen, weil eine starke Minderheit die Grenzen des Sag- und Machbaren jeden Tag etwas verschiebt und dieses Nervengift die Mehrheitsgesellschaft langsam lähmt. Das Kippen geht eben nicht schlagartig -– gestern alles toll, heute alles kacke –, sonst wären die Straßen voll mit Demonstrationen. Es ist ein schleichender Prozess, oft über ein Jahrzehnt oder länger, in dem staatliche Institutionen, Medien, Kultureinrichtungen, selbst Fakten und Gewissheiten, ausgehöhlt und lächerlich gemacht werden.
Es wird so oft „Feuer!“ und „Nazi!“ gerufen, bis kaum einer mehr hinhört.
Das wiederholt sich gerade wie ein Drehbuch. Auf beiden Seiten, auch bei denen, die die Demokratie bewahren wollen, mit Erregungswellen, deren Wirkung auch immer mehr abstumpft. Es wird so oft „Feuer!“ und „Nazi!“ gerufen, bis kaum einer mehr hinhört. Für Brandstifter, die ein anderes Deutschland im Sinn haben, wäre das wohl ein innerer Reichsparteitag.
Ein Systemwechsel wäre nicht das Aus für Medien und Theater. Auch autoritäre Regime müssen ihre Version der Weltsicht unters Volk bringen und auch Diktaturen bemänteln ihr verbrecherisches Antlitz mit schmückender Kultur. Goebbels guckte auch Shakespeare und die Kulturetats im Deutschen Reich waren deutlich höher als in der Weimarer Republik, selbst noch im Krieg. Aber im Vergleich zu heute wären wir ohne Kunstfreiheit halt wieder Körper, die an lebenserhaltende Maschinen angeschlossen sind – ohne Herz und eigenen Verstand.
Sowohl die Berliner Morgenpost als auch der Palast haben es schon erlebt, der Palast gleich zwei Mal in unterschiedlicher Intensität. Es liegt auch an unserem überzeugenden Agieren, ob der Wunsch freudig oder fromm ist: Auf die nächsten 125!