Die Früherkennungsuntersuchungen für Kinder bis zum sechsten Lebensjahr sollen verbindlich und Sanktionen ermöglicht werden

Der Neuköllner Jugend- und Gesundheitsstadtrat Falko Liecke (CDU) macht sich für einen besseren Schutz von Kindern und Jugendlichen stark. Im Dialog mit Berliner Experten hat er einen 19 Punkte umfassenden Forderungskatalog erarbeitet, den er in Kürze dem Senat und den Abgeordneten vorstellen will. Er liegt der Berliner Morgenpost vor. Liecke sieht seine Reformvorschläge als Voraussetzungen, um die gesundheitliche und psychosoziale Entwicklung der Berliner Kinder zu verbessern und die Fälle von Kindeswohlgefährdung zu minimieren.

Ob die Kinder kommen, bleibt den Eltern überlassen

So will der Stadtrat und stellvertretende Bezirksbürgermeister die Früherkennungsuntersuchungen U1 bis U9 für Kinder bis zum sechsten Lebensjahr verbindlich machen und Sanktionsmöglichkeiten einführen. Eltern, die mit ihren Kindern nicht an den Untersuchungen teilnehmen, sollten mit einem Bußgeld bestraft werden.

Bislang werden in Berlin diese Untersuchungen, bei denen Gesundheitsstörungen oder Auffälligkeiten in der Entwicklung der Kinder frühzeitig erkannt werden sollen, über das sogenannte verbindliche Einladungswesen geregelt. Das bedeutet, dass die Eltern zu den Untersuchungen aufgefordert werden, notfalls mehrfach. Auch Hausbesuche sind dabei vorgesehen. Den Bezirken obliegt die Kontrolle. Aber letztlich bleibt es den Eltern überlassen, ob sie mit ihren Kindern tatsächlich zu den Untersuchungen kommen.

Keine Sanktionsmöglichkeiten

Neuköllns Jugend- und Gesundheitsstadtrat Falko Liecke (CDU)
Neuköllns Jugend- und Gesundheitsstadtrat Falko Liecke (CDU) © CDU | CDU

Liecke stört am bisherigen Verfahren der große Kontrollaufwand. Zudem sei das Verfahren kompliziert: Kinderärzte meldeten Untersuchungen an eine zentrale Stelle an der Charité, diese informiere dann den Kinder- und Jugendgesundheitsdienst des Bezirks, in welchen Familien die fragliche Untersuchung nicht durchgeführt wurde. Der Gesundheitsdienst wende sich an die Eltern, mache im Idealfall einen Hausbesuch. Dabei stelle sich dann häufig heraus, so Liecke, dass das Kind inzwischen untersucht wurde oder man treffe auf Eltern, die auch ein Hausbesuch nicht überzeugt. Daraus folge aber nichts, weil es keine Sanktionsmöglichkeiten gebe.

Der Stadtrat räumte im Gespräch mit der Berliner Morgenpost freimütig ein, dass in seinem Bezirk nicht mehr alle U-Untersuchungen kontrolliert würden. Dafür fehlten die personellen Kapazitäten, zudem sei der Erfolg gering. Ebenfalls gering sei die Chance, in diesem Verfahren Kinderschutzfälle zu entdecken.

Neukölln auf dem letzten Platz

In Neukölln wurden im vergangenen Jahr bei 75,7 Prozent der Kinder vollständige Früherkennungsuntersuchungen registriert. Damit nahm der Bezirk den letzten Rang unter Berlins Bezirken ein.

Der CDU-Politiker schlägt stattdessen vor, dass die Bezirke direkt eine Meldung bekommen sollen, wenn ein Kind eine Untersuchung versäumt. Der Gesundheitsdienst würde die Eltern anschreiben, die dann selbst nachweisen müssten, dass die Untersuchung inzwischen durchgeführt wurde. Tun sie es nicht, würde der Bezirk ein Bußgeldverfahren in Gang setzen. Liecke ist überzeugt, dass in den meisten Fällen bereits die Androhung eines Bußgelds dazu führen würde, dass die Eltern die Untersuchung nachholen. Für eine solche Neuregelung müsste das Berliner Kinderschutzgesetz geändert werden.

Jugendsenatorin Sandra Scheeres (SPD) verteidigt das verbindliche Einladungswesen. Es sei ein wichtiger Baustein im Netzwerk Kinderschutz. Aus rechtlichen Gründen sei es nicht möglich, die Eltern zu den Untersuchungen zu zwingen. Dem widerspreche bereits der grundgesetzlich garantierte Schutz der Familie. Zudem sei wichtig, die Eltern über Angebote zu erreichen, nicht über eine Konfrontation zwischen Familie und Jugendamt. Die Freiwilligkeit ende aber, wenn ein Kinderschutzfall erkannt worden sei. Im Netzwerk Kinderschutz seien Standards definiert, ab wann Jugendämter eingreifen können und müssen. Das gelte auch bereits für Vorstufen von Verwahrlosung, Misshandlung oder psychischer Gewalt.

Intensiverer Datenaustausch gewünscht

Stadtrat Liecke fordert in einem weiteren Punkt eine Gesetzesänderung: Er will eine verbindliche Regelung für den Datenabgleich zwischen Gesundheits- und Jugendamt. Bislang ist dies wegen des Datenschutzes nicht möglich. Das erschwere, so Liecke, in vielen Fällen das Erkennen einer Kindeswohlgefährdung erheblich. Auch Senatorin Scheeres würde einen intensiveren Datenaustausch begrüßen. Das habe der Datenschutz allerdings strikt abgelehnt. Der Senat sei bei der Installation des Netzwerks Kinderschutz bereits an die Grenzen des Möglichen gegangen.

Liecke fordert indes, auch den Datenaustausch zwischen öffentlichem Gesundheitsdienst, Jugendamt, niedergelassenen Ärzten, Kitas und Schulen zu vereinfachen, beziehungsweise überhaupt erst zu ermöglichen. Beispielsweise darf ein niedergelassener Kinderarzt nicht den Kinder- und Jugendgesundheitsdienst informieren, wenn er bei einem Kleinkind Auffälligkeiten feststellt, denen die Mutter hilflos gegenübersteht. Schule, Kita, Hort und Jugendfreizeiteinrichtungen dürfen sich nicht über auffällige Kinder und Jugendliche und deren Familien austauschen. Dadurch entstünden Informationslücken, so Liecke, die es verhinderten, die Familie als Ganzes zu betrachten und Hilfestellung durch das Jugendamt anbieten zu können.

Kinderschutzambulanzen für Zweifelsfälle

Eine weitere Forderung Lieckes: Wenn der Verdacht besteht, dass ein Kind körperlich oder psychisch misshandelt, missbraucht oder vernachlässigt wird, müssten Familienhelfer beziehungsweise Mitarbeiter des Jugendamtes oder des Jugendgesundheitsdienstes mit dem Kind verbindlich eine Kinderschutzambulanz oder die Gewaltschutzambulanz an der Charité aufsuchen, wo dann umfassende ärztliche Untersuchungen durchgeführt sowie eine Dokumentation angelegt werden. Wenn die Sorgeberechtigten der Untersuchung nicht zustimmen, sollten die Jugendämter die Möglichkeit erhalten, das Kind vorübergehend in Obhut zu nehmen.

Wie berichtet, wurden zum Jahresbeginn fünf Kinderschutzambulanzen in Berlin eingerichtet: am Charité-Campus Rudolf Virchow in Wedding (Mitte), am Vivantes-Klinikum Neukölln, am Helios- Klinikum Buch (Pankow), am DRK-Klinikum Westend (Charlottenburg) sowie am St.-Joseph-Krankenhaus in Tempelhof. Jugendsenatorin Scheeres sagte der Morgenpost,auch sie erwarte von jedem Mitarbeiter der Jugendämter und Gesundheitsdienste, dass er in einem Zweifelsfall eine Kinderschutzambulanz einschaltet.

Kinderschutzteams im Jugendamt als Feuerwehr

Im Neuköllner Jugendamt gibt es ein Kinderschutzteam, das quasi als „Feuerwehr“ fungiert und schnell intervenieren kann, wenn der Verdacht auf Gefährdung des Kindeswohls vorliegt. Sieben Sozialarbeiter, eine Verwaltungsleiterin und eine Verwaltungskraft sind dort tätig. Auch in Reinickendorf, Spandau und Marzahn-Hellersdorf wurden solche Kinderschutzteams eingerichtet. Liecke möchte sie verbindlich und mit einheitlichen Regelungen der Struktur und Aufgaben für alle Bezirke festgeschrieben wissen.

Der Stadtrat möchte aber auch die Arbeit in den Jugendämtern grundlegend verändern Er will den bundesgesetzlich geltenden Trägervorrang in der Jugendhilfe abschaffen. Der bedeutet, dass die Jugendämter alle Angebote der Jugendhilfe an freie Träger abgeben müssen. Damit geben sie aber auch ihre Kompetenz ab. „Statt selbst in die Familien zu gehen, lesen die Mitarbeiter Berichte. Das Jugendamt ist zum Verwalter von Familien verkommen“, kritisiert Liecke.

Stadtrat schlägt maximal 50 Fälle pro Mitarbeiter im Jugendamt vor

Um wieder selbst eigene Angebote machen zu können, müsse aber die Fallobergrenze pro Mitarbeiter in den Jugendämtern auf maximal 50 Fälle festgelegt werden. Bislang gilt in Berlin ein Limit von 65 Fällen. Liecke ist überzeugt dass ein solcher Systemwechsel keine Mehrkosten verursachen würde.

Jugendsenatorin Scheeres will am Trägervorrang nicht rütteln. Er habe einen historischen Hintergrund, insbesondere Versäumnisse staatlicher Institutionen etwa bei der Heimerziehung. Die Obergrenze von 65 Fällen pro Jugendamtsmitarbeiter sei erst im vergangenen Jahr verabredet worden und sollte zunächst in allen Bezirken umgesetzt werden.

Elternführerschein und Babylotsen

Stadtrat Liecke möchte schließlich auch die Prävention verbessern und sogenannte frühe Hilfen ausbauen. Für Eltern in prekären Lebenslagen, zum Beispiel für alleinerziehende oder minderjährige Mütter und Väter, sollte es verpflichtend sein, mit dem Jugendamt zu kooperieren und dessen Angebote zu nutzen. Der CDU-Politiker nennt das "Elternführerschein".

Das Projekt "Babylotse", dass bislang an der Charité, dem Vivantes-Klinikum Neukölln und dem Waldkrankenhaus Spandau erprobt wird. Möchte Liecke für alle Berliner Geburtskliniken einführen. Dabei handelt es sich um ein freiwilliges systematisches Screeningverfahren, bei dem über einen von einer Krankenschwester ausgefüllten Erhebungsbogen Risikofaktoren ermittelt und entsprechende Unterstützung angeboten wird. Auch Jugendaenatorin Scheeres nennt die Babylotsen "eine gute Sache".

Liecke betonte, eine solche systematische Befragung von Experten, was sich im Kinderschutz ändern müsse, sei bislang einmalig. An dem Forderungskatalog hätten neben Fachkräften der Berliner Jugend- und Gesundheitsämter sowie des Netzwerks Kinderschutz auch der Leiter des

Instituts für Rechtsmedizin der Charité, Michael Tsokos sowie der Chefarzt für Kinder- und Jugendmedizin am Vivantes- Klinikum Neukölln, Rainer Rossi, teilgenommen. ENDE