Der Herbst liegt in der Luft, die Bäume auf dem Mexikoplatz färben sich langsam sepiafarben. Sepia, das ist die Farbe der Vergangenheit – gemeint ist nicht das harte Schwarz-Weiß der 40er- und 50er-Jahre, sondern die bräunlichen Bilder des frühen 20. Jahrhunderts, die Konturen weicher machten. Der Mexikoplatz tief in Zehlendorf lässt sich hervorragend gedanklich in Sepia einfärben, denn er sieht seit über hundert Jahren unverändert aus, auch wenn er anfangs nicht diesen schönen Namen trug: Mexikoplatz.
Das klingt nach Fernweh, nostalgia de países lejanos. Sonst scheint alles unverändert, das gedrungene S-Bahngebäude mit seinen Art-déco-Formen und grünen Fensterläden. Die Bahnbrücke mit dem Wappen der Königlich Preußischen Eisenbahnverwaltung. Die prächtigen Häuser am Platz, das Grün, der Springbrunnen.
Hinter dem Brunnen am anderen Ende des Platzes sitzt einer, der stört die Vintage-Fantasie überhaupt nicht, im Gegenteil, den könnte man gleich mit einfärben. Ab und zu sieht man Gesichter, die aus einem anderen Jahrzehnt zu kommen scheinen. Ein schmales Männergesicht in diesem Fall, ein sehr markantes Kinn, Boxernase, die Haare zum Seitenscheitel. Jetzt steht er auf, auch die Figur passt.
Sieht man Straßenszenen aus den Weimarer Jahren der Stadt, gibt es einen Männertyp, der dominiert: nicht so groß wie heute, der Körper schmal, aber doch sehnig. Männer, die körperlich arbeiten, aber noch keine Proteinshakes trinken, die den Körper zu einem Michelin-Männchen aufblasen. Dieser Mann hat eine Figur vor dem Konsumüberfluss, doch jetzt, wo er näher kommt, wird sein Auftritt zunehmend moderner. Das liegt an den Jeans, am blauen Hemd, vielleicht auch an seiner lässigen Art zu laufen.
Wenn einer es schafft, ohne ein Wort eine Zeitreise im Kopf auszulösen, dann ist das kein schlechtes Omen für einen Schauspieler.
„Hallo“, sagt Sönke Möhring und gibt freundlich die Hand. Dann erzählt er von der Ratte, die gerade in der Nähe seiner Parkbank auf dem Mexikoplatz rumlief und sich von ihm überhaupt nicht stören ließ. Selbstbewusstes Tier.
Ratten in Berlin. Ja, manches ändert sich nie.
Ein Leben wie das von Brad Pitt? Nicht erstrebenswert
Wer ist eigentlich Sönke Möhring? „Inglourious Basterds“ von Quentin Tarantino machte ihn bekannt. Er spielte in dem Film den jungen, deutschen Soldaten, der Brad Pitt alias Leutnant Aldo Raine am Anfang die deutschen Stellungen verrät. Seine Nazi-Figur überlebt das jüdische Todeskommando, doch bleibt gezeichnet: In die Stirn wird ihm ein Hakenkreuz eingeritzt. Damit tritt er vor den Führer.
Wie war es, mit Brad Pitt zu spielen? „Super. Echt knorke.“ Der sei ein umgänglicher Mensch, trotz Leibwächter und ständiger Hysterie um ihn herum. Es sei erstaunlich, wie normal der Hollywoodstar geblieben sei. „Es ist schon ein hartes Leben, so abgedunkelt durch die Nacht zu donnern mit fünf Bodyguards an der Seite. Erstrebenswert finde ich das nicht.“ Er dagegen, Möhring, kann entspannt in der Bäckerei am Mexikoplatz einen Cappuccino kaufen. Der Verkäufer hinter dem Tresen hört zu, während er uns den Kaffee rüberreicht. „Ist Basterds ein guter Film?“, fragt er neugierig. „Ich habe ihn nicht gesehen. Vielleicht hole ich ihn auf DVD.“
„Toller Film“, sagt Möhring.
„Toller Film“, sage ich.
Der Verkäufer meint, dann werde er ihn ausleihen und schaut dabei Sönke Möhring intensiv an. Vielleicht fragt er sich, ob er den Mann kennen müsste. So ein Schauspieler ist Sönke Möhring – irgendwie Promi und doch unter dem Radar. Bei seinem Bruder Wotan Wilke Möhring ist das vermutlich anders. Der ist „Tatort“-Kommissar.
Warum treffen wir uns eigentlich ausgerechnet hier, so tief im Berliner Süden? Schauspieler erwartet man in Mitte oder in Kreuzberg, besser in Kreuzkölln. Aber nicht hier, wo es besonders gediegen zugeht. Unser Spaziergang soll vom Mexikoplatz zum Schlachtensee führen.
Der Treffpunkt hat zwei Gründe. Der erste lautet ganz schlicht: „Logistische Gründe.“ Er wohnt mit seiner Familie hier. Seine Ehefrau ist nämlich eine echte Berlinerin, aufgewachsen in Zehlendorf. Auch Schwiegereltern und Schwägerin haben ein Haus gleich um die Ecke. Und wer wie Sönke Möhring ein kleines Kind zu Hause hat, weiß, dass ein familiäres Netzwerk Gold wert ist. Das erspart einem die mühselige Babysittersuche. Außerdem finden Kinder Omas, Opas, Tanten und Onkel samt Cousins eh viel besser. Die gehören ja zum Clan.
Dann ist da noch der zweite Grund: Der Mexikoplatz steht für Angekommensein. Als er kurz nach dem Mauerfall in Berlin aufschlug, um an der FU zu studieren, entdeckte er diesen Ort zufällig. Möhring wohnte damals noch in Mitte, es waren die wilden 90er-Jahre mit vielen illegalen Bars und Nächten im Tresor. Sönke Möhring, Jahrgang 1972, machte damals Party, sein älterer Bruder Wotan Wilke wohnte auch hier.
„Das war eine aufregende Zeit. Man konnte ausgehen von Mittwoch bis Dienstag.“ Selbst wenn er gewollt hätte, an Schlafen war nicht zu denken, weil sein WG-Zimmer über einem illegalen Club lag. Am Wochenende pulsierte der wummernde Beat unter seinem Bett, damals waren alle jung, niemand klagte.
Verliebt in Zehlendorf – und eine Zehlendorferin
Irgendwann in diesen irren Monaten landete er zufällig am Mexikoplatz – es war so ganz anders als das kaputte, attraktive Ruinen-Berlin. Keine Brachen. Keine Einschusslöcher. Keine Düsternis. Nur eine S-Bahnfahrt entfernt war Berlin heil und schön. Das Bild blieb bei ihm haften. Vielleicht hat er sich damals ein wenig in Zehlendorf verliebt. Und Jahre später in eine Zehlendorferin.
Halt, da war doch was mit Studium. Ja, Psychologie und Soziologie, nein, einen Abschluss hat er nicht gemacht. „Ich war ein sehr, sehr schlechter Student.“ Eine Weile hat er dann in Boutiquen Klamotten verkauft (Textilvertrieb), dann eine Ausbildung als Werbekaufmann gemacht (nach dem Motto „Junge, irgendwas Fundiertes brauchst du“). Auf dem Bau hat er auch gearbeitet. Ein Personalchef würde bei so vielen Biegungen im Lebenslauf streng schauen. „Dann muss man ganz klar sagen, ich habe ein Jahr verlumpt.“
Ein Jahr verlumpt. So ein schönes Wort, das hört man selten. Du Lump, du Tunichtgut! Schon wieder Sepia, diesmal in der Sprache.
Wenn Sönke Möhring redet, dann ist auch die Sprache gefärbt. Man hört das Ruhrgebiet, in jedem Moment. Da kommt er her, geboren ist er in Unna. Dort spielt der Fußballverein, den er liebt – „Ich bin ja extremes Dortmund-Mitglied und Fan für immer und ewig“ –, dort wurde seine Haltung zum Leben geprägt. Menschen aus dem Ruhrgebiet haben meist Freude an Sprachwitz, lieben es, Dinge immer neu und anders zu benennen. Ein Beispiel.
Ein Roadmovie durch Polen
Wir reden über den Fernsehfilm „Heimat ist kein Ort“, der kommenden Freitag am 9. Oktober im Ersten ausgestrahlt wird. Er ist Teil der ARD-Themenwoche „Heimat“, die heute Abend beginnt. Der Film ist ein Roadmovie durch Polen. Die Geschichte geht so: Ein verhasster Patriarch stirbt, die drei Kinder wollen erben. Doch im Testament steht eine Bedingung – das Erbe gibt es erst, wenn die Asche des Vaters an verschiedenen Orten verstreut wird, Orte, die der Vater noch aus der Kindheit kannte. Aufgewachsen war dieser in Ostpreußen, das nun polnisch ist.
Sein Herz blieb an der Vergangenheit hängen, er schwelgte oft in Erinnerungen, die eigenen Kinder fanden das Vertriebenen-Gewäsch des Vaters nur peinlich. Doch nun müssen sich die drei mit einem ollen Campingbus, der den reizenden Namen „Monika“ trägt, auf den Weg machen. Sönke Möhring spielt den jüngsten Sohn Uwe, einen Hundesitter, der schwul ist. Es gibt noch einen älteren taxifahrenden Bruder mit Alkoholproblem (Jörg Schüttauf) und eine ältere Schwester, die als Stationsdrachen in einem Krankenhaus arbeitet (Marie Gruber).
Das Schwulsein ist das Hauptthema bei Möhrings Figur – und angenehm ist, welche leisen Töne er bei Uwe anschlägt. Er spielt den jüngsten Bruder nicht überdreht. Den Machern war es wohl manchmal ein wenig zu leise, obwohl die Figur wunderbar funktioniert, und so kriegt Möhring in dem Film ab und zu vermeintliche Homo-Requisiten an die Hand. Ein rosa Portemonnaie. Eine Schlafbrille. Oder er kriecht mit einer Unterhose im Leoparden-Look aus dem Zelt und steht damit frühmorgens auf einer polnischen Wiese. Die Reporterin – also ich – ist kritisch. Leopardenslip, musste das wirklich sein? War doch alles stimmig bis dahin. Und dann dieser Holzhammer.
Mit einem Leopardenschlüpper kriecht er morgens aus dem Zelt
„Das war ein bisschen hysterisch, diese Buxe. Ich habe auch drauf hingewiesen, dass ich viele Schwule im Freundeskreis habe, aber niemand mit Sicherheit so ‘nen Schlüpper zu Hause hat.“
„Auch Heterosexuelle tragen so etwas ja eher selten“, sagte ich.
„Ja, ja“, lacht er. „Obwohl, man weiß es nicht.“
„In Wanne-Eickel vielleicht“, schlage ich vor.
„Nix gegen c, ruft er sofort. „Da war ich auf der Schule.“ Staunen der Reporterin. „Doch wirklich. Da war unsere Waldorfschule.“
So geht es, wenn man mit Sönke Möhring redet, während wir die Limastraße entlanglaufen, vorbei an den vielen schönen Villen. Man lacht eine Menge. „Buxe“ und „Schlüpper“, die Ausdrücke hört man nicht oft. Und dann springt das Gespräch weiter, über Tigertangas bis zur Waldorfschule. Alles in wenigen Sekunden.
Sönke Möhring ist erst spät zum Schauspiel gekommen, Ende zwanzig war er da schon. Zu spät für eine Schauspielschule. „Was mich echt ärgert.“ Denn dadurch hatte er kaum Chancen, auf Theaterbrettern zu stehen. Er hat damals seinen Job bei einem Lifestyle-Magazin gekündigt, „ins Blaue hinein“. „Ich habe damals gedacht, ein bisschen Schauspielern geht nicht. Wenn du es jetzt nicht ausprobierst, Junge, dann ist es zu spät.“ Er machte einige Method-Acting-Workshops und besorgte sich eine Agentur.
Wochenlang arbeiten, dann wochenlag gar nicht
Lag es eigentlich am großen Bruder, dass er auch Schauspieler werden wollte? Die beiden haben ein enges Verhältnis, der Freundeskreis überschneidet sich. Und nun auch die Berufsreviere. Nein, sagt Möhring, er habe schon seit der Schulzeit gerne Theater gespielt. Wir sitzen jetzt draußen vor der Fischerhütte, trinken unseren Kaffee und schauen über den See. Hat es denn geholfen, einen Bruder im Gewerbe zu haben? „Eigentlich nicht“, sagt Möhring. „Die genetische Verbindung verschafft einem ja nicht automatisch Rollen.“
Schauspieler zu sein heißt auch, in manchen Momenten ganz viel zu arbeiten und dann wieder wochenlang nicht. Fällt ihm das schwer? „Ganz ehrlich, ich finde das super“, sagt er. So kann er zwischenzeitlich viel Zeit mit seinem dreijährigen Sohn verbringen, seiner Frau den Rücken frei halten. Voraussetzung sei allerdings, mit Geld gut umzugehen. „Nachhaltig“, sagt Möhring. Nicht gleich ein fettes Auto kaufen.
Aber so ein Typ ist er eh nicht. „Ich bin ein genügsamer Mensch.“ Und im Moment läuft es sowieso ganz gut – nach der Titelrolle bei „Heiter bis tödlich: Koslowski & Haferkamp“ tritt er jetzt bald im „Tatort“ auf und spricht mit Uwe Ochsenknecht wunderbare Radio-Tatort-Krimis der „Task Force Hamm“ ein.
So ein See, der macht nachdenklich. Sönke Möhring hat sein Leben Revue passieren lassen. „Der Mexikoplatz“, sagt er am Ende, „war ein entscheidender Anfangsmoment für mich. Und jetzt bin ich wieder hier. Da hat sich ein Kreis geschlossen.“ Und wieder taucht alles in Sepia. Verdammt, wieso passiert das ständig? Was soll man machen! Dieses Gesicht nimmt einen mit auf eine Zeitreise – ob man will oder nicht.