In der Karl-Marx-Straße gehören Frauen mit Kopftuch zum normalen Straßenbild. In Fernsehberichten wird die Neuköllner Einkaufsmeile daher oft als Hintergrundbild gezeigt, wenn es um Themen wie Integration oder Islam geht. Auch Betül Ulusoy hat hier zum Gespräch geladen. Doch als das Kamerateam und der Fotograf sie auf der Straße ablichten wollen, winkt sie ab. „Die Frau mit dem Kopftuch auf der Karl-Marx-Straße? Nee, das ist mir zu klischeemäßig“, sagt sie. Stattdessen lotst sie die Journalisten ins „Rix“. Das Café gehört zu den eher wenigen gastronomischen Betrieben in der Gegend, in denen nicht Döner oder Falafel auf der Speisekarte stehen, sondern Spargelcremesuppe und Matjesfilet mit Apfel-Joghurt-Sauce. Frauen mit Kopftuch sitzen, zumindest an diesem Nachmittag, nicht an den Cafétischen – abgesehen natürlich von Betül Ulusoy.
Dem Bild des „Kopftuchmädchens“, wie es Thilo Sarrazin in seinen umstrittenen Ausführungen zur Integrationspolitik gezeichnet hat, entspricht Ulusoy nicht. Sie ist 26 Jahre alt. Das Kopftuch, das sie an diesem Tag trägt und das, wenn es nach ihr ginge, nichts Diskussionswürdiges sein sollte, ihr aber doch so viel Aufmerksamkeit gebracht hat, ist an diesem Tag türkis. Sie trägt ein elegantes Kleid, mit heller Jeans und langem Umhängemantel, farblich alles perfekt aufeinander abgestimmt. Die Lippen sind dezent geschminkt. Wenn sie spricht, schaut sie ihrem Gegenüber fest in die Augen, wirkt entschlossen und reflektiert.
Gefühl der Diskriminierung
Die vergangenen Tage waren aufregend für sie. Sie hetzt von Interview zu Interview, ist etwas aufgekratzt – und wirkt ziemlich zufrieden. Das ist verständlich. Denn das Neuköllner Bezirksamt hat soeben mitgeteilt, dass es ihre Bewerbung als Referendarin im Rechtsamt des Bezirks akzeptiert. „Wenn Frau Ulusoy noch möchte, kann sie am 1. Juli hier anfangen,“ sagte am Dienstag Neuköllns Bürgermeisterin Franziska Giffey (SPD). Die Muslimin kann damit die erste Rechtsreferendarin in Neukölln werden, die ein Kopftuch trägt. Selbstverständlich ist das nicht. Das Amt hatte ihr die Stelle zwar bereits telefonisch in Aussicht gestellt, so erzählt es Betül Ulusoy. Als sie aber im Amt vorsprach und der zuständige Mitarbeiter ihr Kopftuch sah, gab er ihr zu verstehen, dass ihre Einstellung erst noch geprüft werden müsse. Betül Ulusoy fühlte sich diskriminiert – und machte den Fall öffentlich.
Seitdem ist in Berlin – wieder einmal – eine Kopftuch-Debatte entbrannt. Und wieder geht es um die Frage, ob das Kopftuch, das eine Frau trägt, mehr ist als nur ein Stück Stoff. Ist es ein Symbol für die Unterdrückung der Frau – oder nicht mehr als eine Kopfbedeckung, die Musliminnen tragen, weil sie damit ihre religiöse Überzeugung ausdrücken? Und: Ist der Staat dazu verpflichtet, das Kopftuch bei seinen Beschäftigten zu dulden, weil er sonst gegen die grundgesetzlich garantierte Religionsfreiheit verstoßen würde? Oder muss er das Kopftuch verbieten, weil er sonst die Neutralitätspflicht des Staates verletzen würde?
Für Betül Ulusoy ist die Angelegenheit klar. Das Kopftuch trage sie selbstverständlich freiwillig und aus religiösen Gründen. Sie fühle sich damit Gott näher, es sei ein Zeichen dafür, dass nicht das Äußere, sondern die inneren Werte und der Charakter zählten. Konkreter wird sie nicht. Sie zitiert Studien, die belegen würden, dass 96 Prozent ihrer Glaubensschwestern das Tuch aus freien Stücken tragen. Für sie ist es sogar – welch ungewohnter Gedanke – ein Zeichen der Emanzipation: „Es erinnert mich daran, dass es nicht auf Äußerlichkeiten ankommt“, sagt sie. Aber fällt sie mit dem Kopftuch nicht erst recht auf? Ulusoy antwortet: „Man sollte seine Individualität in Deutschland ausleben können.“
Fragt man bei Bürgermeisterin Giffey nach, ist ihr deutlich anzumerken, dass sie eher ungern über die Entscheidung spricht, die ihr Bezirksamt getroffen hat. Man habe sich selbstverständlich an Recht und Gesetz gehalten, sagt sie. Danach dürften Bewerber wegen ihrer religiösen Überzeugung nicht benachteiligt werden. Betül Ulusoy könne im Neuköllner Rechtsamt daher interne Prüfverfahren bearbeiten – auch mit Kopftuch. Plädoyers vor Gericht dürfe sie aber nicht halten.
„Der Staat muss neutral bleiben“
Das zu betonen, ist Bürgermeistern Giffey wichtig. „Der Staat muss neutral bleiben, und wenn seine Bedienstete hoheitliche Aufgaben ausüben, dürfen sie daher keine religiösen Symbole tragen“, sagt Giffey. „Wir müssen auch die Bürger schützen, die keiner Religion angehören und, wenn sie mit dem Staat in Berührung kommen, nicht damit konfrontiert werden wollen“, sagt Giffey. Das sei gerade in einem Bezirk wie Neukölln wichtig. Dies sei auch der Gedanke des 2005 erlassenen Berliner Neutralitätsgesetzes. Giffey macht kein Geheimnis daraus, dass sie möchte, dass das Gesetz bleibt, wie es ist. Dass das schwierig werden könnte, weil die Rechtsnorm nach einer Grundsatzentscheidung des Verfassungsgerichts möglicherweise eben doch geändert werden muss, weiß auch Giffey. „Der Senat muss Klarheit schaffen.“
Hier die Religionsfreiheit – dort das staatliche Neutralitätsgebot. Auch Betül Ulusoy kennt dieses Spanungsverhältnis. Sie ist Juristin, hat an der Freien Universität das Erste Staatsexamen abgelegt und kennt die rechtlichen Feinheiten der Debatte. Sie weiß, dass die Frage, ob sie und andere Musliminnen nicht nur in einer Amtsstube bei der Prüfung juristischer Dokumente, sondern auch als Staatsanwältinnen oder als Richterinnen ein Kopftuch tragen dürfen, noch nicht entschieden ist. Wichtiger noch als das Rechtliche ist ihr aber die gesellschaftliche Debatte. Die Vorstellung, dass Staatsanwälte oder Richter, oder auch Polizei- oder Justizvollzugsbeamte neutrale Wesen seien, sei naiv.
„Es ist doch egal, ob jemand lange Haare trägt, ein Kopftuch oder was auch immer“, findet sie. Ihre Entscheidungen als Juristin würde sie selbstverständlich ausschließlich nach Recht und Gesetz treffen. Ob sie das Kopftuch vor dem Betreten eines Gerichtssaal ausziehe oder nicht, spiele doch keine Rolle. Und warum zieht sie es dann nicht einfach aus? Wenn es doch egal ist? „Die Bandbreite des gesellschaftlichen Lebens sollte sich auch bei den Bediensteten des Staates widerspiegeln“, sagt Ulusoy. Außerdem habe sie sich aus religiösen Gründen für das Kopftuch entschieden und sehe keinerlei Veranlassung es abzulegen.
Man kann Betül Ulusoy mit Fug und Recht als eine Lobbyistin für das Kopftuch bezeichnen. Ist sie eine Fundamentalistin, die die westliche Gesellschaft ablehnt und das so gern beschworene „christliche Abendland“ islamisieren will? Es dürfte viele geben, die das gerne so sehen würden. Thilo Sarrazin möglicherweise, vielleicht auch der erst kürzlich aus dem Amt des Neuköllner Bürgermeisters geschiedene Heinz Buschkowsky. Doch egal, was man von den Thesen der sogenannten „Islamkritiker“ und der Warner vor der „Multi-Kulti-Lüge“ halten mag: Betül Ulusoy ist als Beispiel ungeeignet.
Ihre Eltern kamen als kleine Kinder nach Berlin. Sie selbst wurde hier geboren, wohnt in Buckow, ist eine echte Berlinerin. In Sachen Toleranz, das wird in dem Gespräch deutlich, muss sie sich keine Lehrstunden geben lassen. „Meine beste Freundin ist eine Deutsch-Deutsche und trägt oft Hotpants und Tanktop“, sagt sie. Auf die Idee, Muslime, die kein Kopftuch tragen, für „schlechte Musliminnen“ zu halten, sei sie nie gekommen, versichert sie. Dann sagt sie: „Wir brauchen eine Kopftuch-Blindheit, es muss egal sein.“ Ob man das Tuch trage oder nicht, sei eine höchstpersönliche Entscheidung.
Staatsverständnis berührt
Nun ist der Senat am Zug. Die Senatsverwaltung für Inneres prüft derzeit, ob das Berliner Neutralitätsgesetz nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts geändert werden muss. Richterinnen und Staatsanwältinnen mit Kopftuch, vielleicht sogar Polizeibeamtinnen? Ob es so kommen wird, liegt in den Händen des Gesetzgebers und in denen des Bundesverfassungsgerichts, das sicher nicht zum letzten Mal im Kopftuch-Streit angerufen worden ist. Ausgang ungewiss. So absurd, wie es vor einigen Jahren schien, ist die Vorstellung jedenfalls nicht mehr.
Ob Betül Ulusoy die Stelle im Rechtsamt überhaupt antreten will? Sie schweigt.