Am 25. Februar erklärte das Berliner Verwaltungsgericht die Abschiebung einer jungen Türkin nach Istanbul für rechtswidrig. Dieses Urteil zieht nun Kreise. Grund dafür ist die Tätigkeit des Arztes Rainer L., der viele Jahre als medizinischer Sachverständiger tätig war, unter anderem für die Ausländerbehörde, die Berliner Polizei und die Bundespolizei. Bei der Abschiebung der Türkin stellte er, wie in offenbar Tausenden weiteren ausländerrechtlichen Verfahren, die Flugfähigkeit der Frau fest. Daraus ergeben sich Fragen und Zweifel, die das Abgeordnetenhaus beschäftigen. Am heutigen Montag befasst sich der Gesundheitsausschuss mit dem Fall, am kommenden Montag der Innenausschuss.
Die heute 31 Jahre alte Frau wurde am 15. Dezember 2014 abgeschoben. Sie klagte gegen diese Entscheidung und machte dafür gesundheitliche Gründe geltend: Im September vergangenen Jahres habe ihr eine Fachärztin Flugangst und Panikattacken mit Todesangst und Luftnot attestiert, daher sei sie flugunfähig gewesen. Arzt Rainer L. stellte jedoch fünf Wochen vor der Abschiebung Flugfähigkeit fest. In der mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgericht trat L. als Zeuge der beklagten Ausländerbehörde auf. Die Richter zogen in ihrer Urteilsbegründung die Expertise des Arztes in bemerkenswerter Deutlichkeit in Zweifel: Seine Feststellungen seien „unbrauchbar, da der Zeuge L. ungeeignet gewesen ist, die Flugfähigkeit der Klägerin festzustellen“. Die Richter sahen einen Interessenskonflikt, da L. Honorar von zwei Auftraggebern kassierte. Von der Polizei sei er als medizinischer Flugbegleiter für die junge Frau bezahlt worden, von der Ausländerbehörde war er „als eine Art ,Sachverständiger‘ beauftragt, die Flugfähigkeit aus medizinischer Sicht zu bewerten“.
Gutachten in rund 50.000 Fällen
Diese Kombination, so die Richter, sei rechtlich sehr bedenklich, „weil der Zeuge L. an der Feststellung der Flugfähigkeit ein nicht unerhebliches, eigenes finanzielles Interesse haben dürfte. So hat er eingeräumt, dass er das Honorar in Höhe von circa 800 bis 900 Euro für die Flugbegleitung verloren hätte, wenn er die Flugfähigkeit verneint hätte.“ Und weiter: „Offenbar bestreitet der Zeuge seinen Lebensunterhalt seit Jahrzehnten nahezu ausschließlich aus der Ausstellung von Flug- und Reisefähigkeitsbescheinigungen und der Flugbegleitung im Rahmen von Abschiebungen.“
Das ARD-Magazin „Fakt“ hatte Ende März als erstes über die rechtswidrige Abschiebung berichtet. Dort hieß es, L. habe selbst vor Gericht angegeben, seit Ende der 70er-Jahre für die Bundespolizei, die Berliner Polizei und die Ausländerbehörde tätig gewesen zu sein. Er habe gesagt, seit 1980 in etwa 50.000 Fällen Gutachten zur Reisefähigkeit und „Verwahrbescheinigungen“ ausgestellt zu haben. Hans-Georg Lorenz, Rechtsanwalt der gegen das Land Berlin klagenden Türkin, rechnete daraufhin vor, der Arzt habe in den vergangenen 20 bis 30 Jahren mindestens zehn Millionen Euro verdient. Der Mann sei offenbar gezielt eingesetzt worden, um Abschiebungen durchführen zu können.
In dem im Februar ergangenen Verwaltungsgerichtsurteil monierten die Richter zudem, die Ausführungen des Arztes genügten inhaltlich nicht den Anforderungen an eine ärztliche Stellungnahme. Sie seien auch nicht ausreichend dokumentiert. „Es sind weder Befundtatsachen ersichtlich, noch ist eine medizinisch-fachliche Diagnose erkennbar“, heißt es in der Urteilsbegründung. Eine medizinische Anamnese aufgrund einer geltend gemachten psychischen Erkrankung sei offenkundig nicht erfolgt, „zumal der Zeuge L. lediglich über eine Ausbildung als praktischer Arzt verfügt“.
„Mit verdeckten Karten“ gespielt
Dubios erschien den Verwaltungsrichtern auch das Verhalten des Arztes der jungen Türkin gegenüber. Er habe das von ihr aufgebaute Vertrauen „in seine Person als Arzt dazu genutzt, sie den Polizeikräften zuzuführen“. Die Frau sollte bereits im Mai und September abgeschoben werden, die Polizei traf sie aber jeweils nicht an. Am 3. November 2014 stellte sie einen Duldungsantrag, begründete ihn mit ihrer ärztlich attestierten Flugunfähigkeit. Am 6. November erhielt sie eine Aufforderung, am 10. November bei der Ausländerbehörde vorzusprechen. In der Ladung hieß es laut Gericht ausdrücklich: „Eine Festnahme ist nicht geplant.“ An jenem 10. November sprach sie mit dem Arzt, dabei wurde vereinbart, dass sie am 15. Dezember wieder vorsprechen und weitere ärztliche Unterlagen vorlegen sollte.
Was die Türkin nicht wusste: Zwischen Polizei und Ausländerbehörde war seit 7. November schriftlich vereinbart, dass sie am 15. Dezember abgeschoben werden soll. Was sie ebenfalls nicht wusste: Arzt L. schrieb am 13. November, dass die Frau reise- und flugfähig sei. Die Atteste zu ihrer Flugangst seien „nicht substantiell begründet“. Sein Schreiben findet sich allerdings nur in den Akten der Polizei und der Bundespolizei, nicht in der Ausländerakte der 31-Jährigen. Der Arzt habe „mit verdeckten Karten“ gespielt, sagten die Richter. Tatsächlich trug sein Verhalten wesentlich dazu bei, dass die Türkin am 15. Dezember unter einem Vorwand von der Ausländerbehörde vorgeladen und von ihrer Abschiebung völlig überrascht wurde. Sie hatte weder Reisegepäck noch persönliche Unterlagen dabei. Und sie hatte nicht mehr die Möglichkeit, effektiven Rechtsschutz gegen die Abschiebung in Anspruch zu nehmen. All diese Ungereimtheiten sorgten dafür, dass die Abschiebung für rechtswidrig erklärt wurde. Der in Deutschland mehrfach vorbestraften Frau nützt dies allerdings nichts: Sie darf trotz des Urteils nicht nach Deutschland zurückkehren, weil zuvor bereits ihre Klage gegen die Ausweisung rechtskräftig abgelehnt worden war.
Fragen an Innensenator Henkel
Innensenator Frank Henkel (CDU), für Polizei und Ausländerbehörde verantwortlich, wird sich im Innenausschuss Fragen der Opposition stellen müssen. Insbesondere wollen die Abgeordneten wissen, nach welchen Kriterien die Ärzte ausgewählt werden, die medizinische Stellungnahmen bei Abschiebungen abgeben. Zu klären sei zudem, wie ihre Kompetenz geprüft wird. Die Linken -Abgeordneten Regina Kittler und Hakan Tas haben dazu bereits zwei schriftliche Parlamentsanfragen gestellt, deren Beantwortung durch den Senat aber noch aussteht. Sie möchten auch wissen, wie intensiv die Zusammenarbeit zwischen Berliner Behörden und Rainer L. war. Die Piraten stellen ähnliche Fragen, wollen dazu aber am heutigen Montag bereits Auskünfte von Gesundheitssenator Mario Czaja (CDU). Ihr Abgeordneter Fabio Reinhardt wundert sich auch über die immense Anzahl medizinischer Gutachten und Stellungnahmen, die Rainer L. in den vergangenen Jahrzehnten nach eigenen Angaben verfasst hat. Reinhardt fragt: „Wie wird sichergestellt, dass Ärzte nicht einfach nur ein Blatt Papier unterschreiben, ohne den Abzuschiebenden überhaupt zu Gesicht bekommen zu haben? Im Fall von Herrn L. sprechen wir von drei bis fünf Gutachten pro Tag seit Ende der 1970er Jahre – vorausgesetzt, er hätte 365 Tage im Jahr durchgearbeitet.“
Ein Sprecher der Innenverwaltung hatte nach der „Fakt“-Sendung erklärt, die Ausländerbehörde greife auf die beim Polizeiärztlichen Dienst beschäftigten Ärzte zurück oder auf Ärzte, die gegen Honorar für die Berliner Polizei arbeiten. So sei auch Rainer L. auf Honorarbasis beschäftigt worden. Der Berliner Polizei habe ein Schreiben der Ärztekammer vorgelegen, wonach L. „Mitglied der Ärztekammer war und die Approbation vorlag“. Welche Ärzte zum Einsatz kommen, werde anhand der personellen Kapazitäten entschieden. Bei approbierten Ärzten gehe die Innenverwaltung „grundsätzlich davon aus, dass diese eine Entscheidung nach den Regeln der ärztlichen Kunst darüber treffen, ob eine Person reisefähig ist oder nicht“.