Sanft legt Bettina Schuler ihre Hand auf Arwas Kopf. Arwa schließt die Augen, atmet tief ein und mit einem Seufzer wieder aus. Sie lässt die Schultern sinken, die Spannung weicht aus ihrem Körper. Das gelingt ihr selten. Seit zwei Jahren, seit ihrer Flucht aus Syrien, führt Arwa ein Leben in Dauerspannung. Angst, Ungewissheit, die Bilder des Krieges lasten schwer auf ihren Schultern. Doch beim Yoga kann sie all das für einen Moment vergessen. Im „Sonnengruß“ oder im „Baum“ ist sie ganz im Hier und Jetzt.
Vor acht Monaten hat Bettina Schuler damit angefangen, ehrenamtlich Yoga-Unterricht für Frauen in Flüchtlingsheimen anzubieten. Es war ein Sonnabend im Frühjahr, als ihr die Idee kam, am darauffolgenden Montag hat sie bei einer Infostelle für Ehrenamtliche angerufen, am Mittwoch darauf hat sie die erste Stunde gegeben. Schon lange wollte sich die 39 Jahre alte Journalistin und Yogalehrerin ehrenamtlich engagieren. Ursprünglich hatte sie vor, alten Menschen im Seniorenheim vorzulesen, aber dann ließen sie die Bilder der Flüchtlinge nicht mehr los – und auf einmal wusste sie, was sie tun sollte: „Yoga, das könnte den Menschen helfen und das funktioniert über Sprachbarrieren hinweg.“
Bettina Schuler ist nicht die einzige Berlinerin, die sich für Flüchtlinge engagiert und damit auch ein deutliches Zeichen gegen die islamfeindliche Pegida-Bewegung setzt. Im Südwesten der Stadt, in Steglitz-Zehlendorf, hat sich ein „Willkommensbündnis für Flüchtlinge“ gegründet, unterstützt unter anderen von Schauspieler Dieter Hallervorden, dem Arzt und Entertainer Eckart von Hirschhausen sowie RBB-Moderator Jörg Thadeusz. „Meine Großeltern kamen in den Wirren des Krieges selber als Flüchtlinge nach Deutschland“, sagt von Hirschhausen über seine Motivation.
Kochen verbindet
Ein anderes Projekt heißt „Über den Tellerrand kochen“. Vier junge Berliner organisieren seit etwas mehr als einem Jahr gemeinsames Kochen mit Flüchtlingen und anderen Berlinern. Dabei kommen Gerichte aus den Herkunftsländern der Asylsuchenden auf den Tisch. Gestartet war die Initiative als Projekt im Funpreneur-Wettbewerb der Freien Universität (FU). Mittlerweile ist auch ein Kochbuch erschienen – „Rezepte für ein besseres Wir“. Der Erfolg gibt ihnen recht: Zwei Mal pro Monat bietet das wachsende Team seither Kochkurse an, geleitet von Flüchtlingen. Und die fühlen sich wohl. Wie Shaik, ein ehemaliger Kaufmann aus Pakistan, der in einer Unterkunft in Charlottenburg lebt und auf sein Asylverfahren wartet. Er wolle seine Begeisterung fürs Kochen weitergeben, sagt der 44-Jährige mit dem dichten schwarzen Bart.
„Viele der Teilnehmer waren Menschen, die bis dahin noch nie Kontakt zu Flüchtlingen oder überhaupt zu diesem Thema hatten“, sagt Projekt-Mitbegründerin Ninon Demuth. Berührungsängste, eine gewisse Scheu gebe es anfangs auf beiden Seiten. „Gerade über das Kochen kann man aber Barrieren abbauen“, so die Erfahrung von Teammitglied Rafael Strasser. Einen Mehrwert hätten beide Seiten: „Der Flüchtling kommt aus der Isolation und kriegt Kontakt zu Deutschen, die wiederum können in einem vorgegebenen Rahmen in eine fremde Kultur eintauchen.“
Ähnlich positive Erfahrungen hat auch Yoga-Lehrerin Bettina Schuler gemacht, die schon ein Buch über die Trendsportart und seine Wirkungen geschrieben hat („111 Gründe, Yoga zu lieben“, Schwarzkopf-Verlag). Zuerst fuhr sie in das Erstaufnahmeheim an der Motardstraße in Siemensstadt, seit zwei Monaten gibt sie ihre Yoga-Stunde jeden Donnerstag im Heim der Prisod Wohnheimbetriebs GmbH an der Pankower Mühlenstraße, mitten im Florakiez. Seit Ende 2013 wohnen in dem ehemaligen Bürogebäude etwa 250 Flüchtlinge, vorwiegend aus Syrien, vom Balkan, aus Iran und Irak.
Arwa ist eine von ihnen. Seit Kurzem lebt sie mit ihren beiden Kindern in dem Heim. Im Frühjahr war sie selbst noch an der Motardstraße und hat dort den Aushang mit dem Yoga-Angebot gelesen. Seit Beginn ist die 48-Jährige aus Damaskus dabei – und hat kaum eine Stunde versäumt. „Ich wollte schon zu Hause so etwas machen, aber da gab es das nicht“, erzählt sie. Zu Hause sagt sie, aber dieses Zuhause gibt es nicht mehr. Seit erst ihr Mann und dann auch sie mit der heute 16-jährigen Tochter und dem 19-jährigen Sohn ihr Heimatland Syrien Hals über Kopf verlassen haben. Über Italien und die Niederlande kam sie schließlich nach Deutschland. Zwei Jahre lebt sie nun schon aus Taschen und Koffern, in immer wieder neuen Lagern und Heimen, von Asylantrag zu Asylantrag, zwischen Hoffnung und Enttäuschung, die meiste Zeit getrennt von ihrem Mann. Jetzt endlich hat die Familie hier Asyl bekommen.
Statt Demos gibt es Hilfsangebote
Die Yoga-Stunde ist für Arwa ein wichtiger Termin in der Woche, manchmal der einzig schöne. Auf jeden Fall aber ist es etwas, auf das sie sich verlassen kann. Denn es muss schon viel passieren, damit Bettina Schuler mal einen Termin ausfallen lässt. „Für mich war gleich klar: Wenn ich mich engagiere, dann kann ich das nicht einfach mal ausprobieren und dann wieder lassen“, sagt sie, „diese Menschen sind so oft im Stich gelassen worden, die brauchen doch Verlässlichkeit und Kontinuität.“
Susan Hermenau sitzt neben ihr und nickt. Sie leitet das Flüchtlingsheim in Pankow und bekommt inzwischen viele Anfragen von Menschen, die ehrenamtlich helfen wollen. Dieses Engagement gehört für sie zur Willkommenskultur und es sei auch sehr wichtig, dass es zwischen Flüchtlingen und Nachbarn einen guten Austausch gibt. Im Florakiez scheint das zu funktionieren: Statt Demos gegen Flüchtlinge gibt es hier zweimal im Monat ein Nachbarschaftscafé.
Aber die Heimleiterin weiß auch, dass ehrenamtliches Engagement nicht immer so reibungslos klappt wie mit Bettina Schuler. Es sei wichtig, dass Ehrenamtliche beraten werden, damit sie wissen, welche Hilfe benötigt wird und was sie zum Umgang mit den Flüchtlingen wissen müssen, damit es nicht zu Enttäuschungen kommt. Gut sind aus ihrer Sicht vor allem Angebote, die kontinuierlich, aber nicht verpflichtend stattfinden. „Auf die Sache kommt es gar nicht so sehr an, wichtiger ist, dass wirklich eine Brücke zwischen Flüchtlingen und Ehrenamtlichen geschlagen wird“, erklärt Susan Hermenau. Dazu brauche man viel Geduld, denn viele Flüchtlinge haben aufgrund ihrer traumatischen Erlebnisse erst einmal Berührungsängste.
Das hat auch Bettina Schuler gespürt. „Am Anfang kamen die Frauen in voller Montur, nicht mal ihre Socken haben sie ausgezogen“, erinnert sie sich. Von Stunde zu Stunde hätten sie dann immer mehr Kleidungsstücke abgelegt, so als würden sie sich aus ihrem Schutzpanzer schälen. Und von Stunde zu Stunde seien sie auch offener geworden. Trotzdem hat sie es nicht persönlich genommen, wenn mal an einem Donnerstag niemand in den kleinen Gemeinschaftsraum kam, in dem sie die Yogamatten auslegt: „Es ist ja ein Angebot, und wenn die Frauen das mal nicht wahrnehmen, gibt es dafür viele Gründe“. Was diese Frauen am wenigsten bräuchten, so ihre Überzeugung, wäre jemand, der ihnen erklärt, wie die Welt funktioniert und was sie zu tun hätten.
Sechs Frauen gehören inzwischen zum „harten Kern“ der Yoga-Gruppe, sie kommen alle aus Syrien. Von manchen weiß Bettina Schuler, was sie erlebt haben, von anderen nicht. Sie hält sich mit Fragen zurück und lässt die Frauen lieber von sich aus kommen. Manchmal passiert das ganz unvermittelt. Zum Beispiel hat sie den Frauen einmal einen gemeinsamen Besuch in einem Bad mit Frauenschwimmzeiten vorgeschlagen, aber da wiegelte eine gleich ab. Nein, seit ihrer Flucht könne sie nicht mehr ins Wasser gehen.
Kaum Verständigungsprobleme
Die Yoga-Lehrerin will sich nicht überschätzen: „Ich bin ja keine Therapeutin und könnte gar nicht alles auffangen.“ Aber sie würde gern einen gemeinnützigen Verein gründen, um zusammen mit einem Psychotherapeuten eine besondere Trauma-Therapie umzusetzen. „Die Idee dahinter ist, dass man das Trauma aus dem Kopf und aus dem Körper bekommt“, erklärt sie, „denn auch wenn der Kopf die Erlebnisse vielleicht verarbeitet hat, kann der Körper immer noch auf bestimmte Gerüche, Geräusche und Berührungen reagieren, hier würde Yoga helfen“.
Verständigungsprobleme gibt es kaum in der Gruppe, einige sprechen auch Englisch. Und wie viele syrische Flüchtlinge sind auch Arwa und ihr Mann Akademiker. Sie hat als Lehrerin an einer UN-Schule gearbeitet, er ist Jurist und Ingenieur. Beide hoffen, dass sie hier bald wieder anfangen können zu arbeiten, doch noch verbringen sie ihre Tage stattdessen mit stundenlangen Aufenthalten bei Behörden. Umso mehr ist die Yogastunde eine willkommene Abwechslung. Und manchmal geht es auf der Yoga-Matte auch um ganz andere, leichtere Themen. „Die Frauen interessieren sich zum Beispiel genauso für Nagellack wie ich“, sagt Bettina Schuler. Über diese Normalität freut sie sich, denn sie sieht darin ein Zeichen, dass die Flüchtlinge ein bisschen angekommen sind.
Zu den Frauen, vor allem zu Arwa, hat Bettina Schuler inzwischen eine enge Beziehung aufgebaut. Sie hat die Yoga-Gruppe in der Adventszeit zu Plätzchen und alkoholfreiem Punsch eingeladen, umgekehrt war sie auch schon Gast bei einer syrischen Hochzeit. Und von Arwa lernt sie inzwischen Arabisch. Während sie der neuen Freundin den Rücken bei der nächsten Yoga-Position in eine aufrechte Position schiebt, sagt sie: „Ich hätte nie erwartet, dass ich so viel zurückbekomme.“